LESEPROBE
John
Westminster, Mai 1199
England begrüßte John mit bleiernen Wolken und heftigen Regenschauern. Sein Magen beruhigte sich erst, nachdem die Galeone an einem der drei Holzstege im Hafen von Shoreham festgemacht hatte, sein Gemüt jedoch nicht. Die anstrengende Reise über den Kanal hatte einen Tag länger gedauert, denn kaum lag Dieppe hinter der kleinen Flotte, packte ein höllischer Sturm die vier Schiffe, die ihn, und den auf mittlerweile zweihundert Menschen angewachsenen Hofstaat, in sein künftiges Reich bringen sollten.
Schwarzer Regen peitschte über das aufgewühlte Meer, nur das schwankende Deck teilte die See vom Himmel, und John verbrachte die meiste Zeit im Bauch des krängenden Schiffes. Er spie seinen Mageninhalt, der nur aus saurer Flüssigkeit und kleinen Brotstücken bestand, ab und an in einen Holzbottich. Er füllte den leeren Bauch mit kräftigem Rotwein wieder auf, halb betrunken ertrug er das grässliche Schaukeln besser.
Lord William de Briouze und Hubert de Burgh leisteten ihm dabei Gesellschaft, so wie vor seiner Erhebung zum Herzog in der Kathedrale von Rouen. Er war damals sehr aufgeregt gewesen, endlich die mit goldenen Rosenornamenten verzierte Krone zu erhalten, das Zeichen der Herrschaft über die Normandie. An diesem Vormittag befahl er einige seiner Ritter zu sich, um sich mit ihnen abzulenken, und wie immer, wenn er aufgekratzt war, trank er zu viel.
Später stolperte er auf den Stufen vor dem Altar und fiel dem erzürnten Erzbischof Walter von Coutances in die Arme, der die Zeremonie sichtlich angewidert zu Ende brachte und ihm den Reif auf das Haupt setzte. Zu allem Unglück entglitt ihm das rote Banner der Normandie, welches ihm der Kirchenfürst danach reichte und das in Folge zu Boden polterte.
Ein schlechtes Omen für den Beginn seiner Herrschaft, so wie dieser Sturm, tuschelten einige in seinem Gefolge, wie Lord de Briouze berichtete, der jetzt neben ihm an der Spitze des Zuges Richtung Norden ritt.
»Was soll das heißen, de Briouze? Das ist fast einen Monat her. Der Speer des Banners war schweißnass von Erzbischof Walters teigigen Händen, und Stürme gibt es in diesem verdammten Kanal jeden zweiten Tag«, grollte John. »Ich bin umgeben von abergläubischen Schwachköpfen. Wer war das, nennt mir Namen, ich lasse ihnen die Zunge aus dem Rachen schneiden!«
»Baron de Hummet, der Konstabler der Normandie, verstieg sich zu dieser Bemerkung«, bekannte de Briouze freimütig.
»Ach«, sagte John nur und dachte an dessen gelangweilte und offenherzige Frau Agathe, die er in Rouen getroffen hatte, als er den Konstabler in der Zitadelle suchte. Doch der war in der Stadt mit den Vorbereitungen zur Herzogszeremonie beschäftigt und seine blondgelockte Gemahlin wollte es sich nicht nehmen lassen, daheim ihren Teil zum Wohlbefinden des neuen Herrschers beizutragen. Er verließ ihr Gemach mit zerzausten Haaren und zerkratztem Rücken.
»Wollt Ihr ihn dafür bestrafen? Er ist nicht der hellste Kopf, aber ein sehr wohlwollender und diensteifriger Mann.«
»Diese Eigenschaften liegen seiner Familie anscheinend im Blut. Unsinn, wenn ich jedem Narren in meiner Nähe die Zunge nähme, dann hätte ich nur halb so viele Ritter. Die Wahrheit ist doch, wir sind auf dem Weg zu meiner gottgewollten Krönung.«
»Ich bin Eurer Meinung, Herr. Sie werden verstummen, sobald Ihr Englands Krone tragt.«
Wenn nicht, überlege ich mir andere Dinge, wie ich sie zum Schweigen bringe, dachte John und rieb grübelnd sein Kinn.
Zweifellos war das unerfreuliches Geschwätz. Es zeigte ihm jedoch, wie wichtig ein makelloses Auftreten bei der kommenden Feierlichkeit war, deren alte Rituale fest vorherbestimmt waren. John schwor sich, keinen Becher Wein anzurühren, bis er durch das Tor von Westminster Abbey als gesalbter Herrscher schreiten würde.
Rouen war nur eine langweilige Provinzstadt, betrunkene Adlige sah man dort alle Tage, aber in London schlug das Herz Englands. Ein Traditionsbruch durch unschickliches Verhalten hätte weitreichende Folgen für sein ohnehin angeschrammtes Ansehen, welches eben erst in Northampton wieder hergestellt wurde, wie er erfahren hatte.
Als er die Nachricht vom Ausgang der dortigen Ratsversammlung erhielt, hatte er laut gebrüllt vor Freude und dabei eine Faust in die Luft gestreckt, so wie es Turniersieger hielten. So viele Jahre hatte er gewartet, gehofft und geflucht, den Spott und Hohn seiner Brüder ertragen, nur Brosamen von Richards reichgedecktem Tisch erhalten. Er wusste, wie er von klein auf genannt wurde und er hasste diesen unsäglichen Beinamen, der dennoch seinen Status als Letztgeborener treffend beschrieb. John Lackland, Johann Ohneland.
Ab dem Tag meiner Krönung werde ich jedem, der mich noch so bezeichnet, den Kopf abschlagen lassen, sei er Bauer oder Baron.
Die Krönungszeremonie musste dieses Mal unter allen Umständen ohne Zwischenfälle stattfinden, deshalb hatte er kurz nach der Ankunft seinen Kämmerer Hubert de Burgh mit zwei Dutzend Rittern vorausgeschickt, die einen reibungslosen Ablauf der Feierlichkeiten vorbereiten sollten.
Was nicht hieß, er würde ohne Wein in Westminster eintreffen. Hinter ihm rumpelten vier Ochsengespanne mit Fässern aus Anjou und Bordeaux, die er zähneknirschend zu einem überhöhten Preis in Rouen kaufen ließ, weil die Ernte südlich der Loire im letzten Herbst zur Hälfte durch übles Wetter verdorben worden war. Der Gedanke daran erweckte augenblicklich sein Verlangen nach einem kräftigen Schluck.
»An Wasser mangelt es hier nicht«, sagte John verdrossen und schaute in die diesige Landschaft, die in eintönigem Grau bis zum Horizont reichte. »Aber mein Mund ist trocken wie verdorrtes Laub. Wir beide rasten hier mit Euren Leuten, der Rest soll weiterziehen, wir holen sie später ein. Lasst eine Zeltbahn zwischen den Bäumen dort drüben aufspannen, de Briouze.«
»Sofort, Herr. Ich nehme an, einer der Wagen mit Wein und Vorräten soll ebenfalls hierbleiben?«
John grinste. »Ihr kennt mich zu gut. Ich frage mich, ob mich das sorgen oder freuen soll.«
De Briouze lachte laut auf. »Ich stehe fest an Eurer Seite. Die Waliser haben dafür ein Sprichwort. In drei Dingen mag ein Mensch sich täuschen: in einen Mann, bis er ihn kennt, in einen Baum, bis er gefällt, und in einen Tag, bis er vorüber ist.«
Er wendete sein Ross und rief seinen Leuten Befehle zu. John gefiel die Antwort des schlagfertigen Lords aus den Welsh Marches, der mehr Waliser dem Schwert überantwortet hatte, als Haare in seinem dichten Bart wuchsen. Dieser Mann hatte ihm den Weg zum Thron geebnet, er bezeugte in aller Öffentlichkeit Richards letzte Worte, die ihn zum Erben des Reiches erheben würden.
Die Rast reichte für einen Krug Wein und die Notdurft, ungeduldig trieb John seine Leute an. Am Abend des nächsten Tages erreichte er den königlichen Palast in Westminster, westlich von London und versagte jedem den Zutritt zu seinen Gemächern. Bis auf Erzbischof Hubert Walter, der ihm den Ablauf des Krönungstages erläuterte, und Kämmerer de Burgh, mit dem er bis spät in die Nacht die Einzelheiten der anschließenden Zusammenkunft der Fürsten in der Großen Halle besprach.
Am verregneten Morgen des siebenundzwanzigsten Mai, eintausendeinhundertneunundneunzig Jahre nach der Fleischwerdung des Herrn und dem Gedenktag seiner Himmelfahrt, hallten die Glocken der Benediktinerabtei von Westminster über die Köpfe hunderter Würdenträger des Reiches, die sich vor dem Eingang des Palastes zu einem Prozessionszug aufgestellt hatten.
John schritt unruhig in seinem Gemach im ersten Stock umher, in seinem Magen ein hartgekochtes Ei, ein Stück Weißbrot und ein flaues Gefühl. Entgegen allen tugendhaften Vorsätzen griff er nach dem Weinbecher, auf dem Tisch. Er trank in kleinen Schlucken und spähte aus dem Dunkel des Raumes durch das Fenster hinaus auf den Zug, der sich draußen formiert hatte.
Die Spitze bildeten ein Dutzend Bischöfe und Äbte, von denen jeder ein Kreuz aus getriebenem Silber auf einer Stange trug. Sie waren umringt von singenden Benediktinermönchen. Einige schwenkten Weihrauchgefäße, aus denen weißer Rauch quoll, andere hielten armdicke Kerzen, bemüht, die Flammen vor Regen und Wind mit ihren Händen zu schützen.
Hinter den Geistlichen, unter denen er den gebrechlichen Bischof Hugh von Lincoln ausmachte, der von einem Diener gestützt wurde, hatten vier Barone Aufstellung genommen. Er sah, wie der greise Lord Waleran von Warwick stolz das breite Staatsschwert umklammerte, das in einer vergoldeten Scheide steckte. Neben ihm trug Richard, der Lord von Clare, zwei Sporen aus massivem Gold auf einem Seidenkissen vor der Brust und Lord Ranulf von Chester hielt den Goldenen Stab des Königs, dessen Spitze die Figur einer Taube zierte. An seiner Seite ragte der baumlange Lord William Marshal wie ein Fels mit steinerner Miene auf.
Wie schon vor zehn Jahren bei Löwenherz’ Krönung war ihm das mit Edelsteinen verzierte königliche Zepter anvertraut. Es lag auf einer mit rotem Samt belegten, aus Silber getriebenen Platte.
Sechs weitere Barone hatten eine hölzerne Trage geschultert, auf der die schweren Krönungsgewänder aus Wolle, Brokat und Hermelin, sowie die königlichen Waffen lagen: Schwert, Dolch und Schild.
Hinter dem Berg von Roben erspähte John den dunklen Lockenkopf des Lords William von Salisbury, den man wegen seines Mutes und Kampferfahrung Langschwert nannte. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Es war sein Wunsch gewesen, dem ihm treu ergebenen Halbbruder die Ehre zu geben, die schwere, mit Edelsteinen besetzte goldene Krone Englands zu halten. Was ihm mit hocherhobenem Haupt und selbstbewusster Haltung gelang.
»Es ist an der Zeit, Herr«, hörte John die Stimme Hubert de Burghs hinter sich.
»Sie haben es eilig, vor mir auf die Knie zu sinken, was? Wer hätte das gedacht. Vielleicht wollen sie auch nur ins Trockene. Aber alles hat seinen Preis. Gehen wir.«
Er hatte genug gesehen, wandte sich ab und begab sich die Treppe hinunter, wo er am Ausgang vom Obersten Richter Geoffrey FitzPeter empfangen wurde. Er geleitete ihn schnaufend unter einen Baldachin aus Damast und goldenen Borten, der von vier prächtig gekleideten Lords an Speeren gehalten wurde.
John musterte sie, nickte kurz und warf einen verdrießlichen Blick auf seine eigene armselige Kleidung, die nur aus einem grob gewebten Glockenmantel und halbhohen Lederstiefeln bestand, so wie es seiner Meinung nach ein unsinniger Brauch vorschrieb. Im Vergleich zu ihnen kam er sich wie eine braune Schabe unter bunten Schmetterlingen vor.
Drei Hornstöße lenkten seine Aufmerksamkeit auf die Männer vor ihm zurück, das Zeichen zum Beginn der Prozession, die sich daraufhin gemächlich in Bewegung setzte.
Der Weg zur Abteikirche war beidseitig durch lange Holzstangen begrenzt, die auf Pflöcken befestigt waren, hinter denen sich scheinbar halb England drängte, um einen Blick auf den neuen Herrscher zu werfen. Eine Krönung fand nicht alle Tage statt, Tausende waren auf die sumpfigen Wiesen um das Kloster von Westminster gekommen. Die meisten riefen John Glückwünsche und Segensrufe zu, wie er erfreut feststellte. Einige Flüche überhörte er geflissentlich.
Das begeisterte Geschrei übertönte den Singsang der Mönche. Manche versuchten, die Absperrungen zu überwinden, und wurden mit Stockhieben der zahlreich postierten Wachen zurückgetrieben. Unbeschadet langte der Zug am halbrunden Portal der Kirche des Heiligen Petrus an, das blumenbekränzt zwischen zwei dreistöckigen Glockentürmen die ersten Geistlichen des Trupps verschluckt hatte.
Die Adligen folgten. Sie betraten das fast sechzig Fuß hohe Kirchenschiff, an dessen Längswänden ihre Banner an Lanzen und Speeren wie ein farbenprächtiger Wald aus Stoff lehnten. Bis zum Hochaltar im Osten schritten sie über eine zweilagig gelegte Bahn aus feinstem hellen Leinen, sie dämpfte das Geräusch ihrer schweren Stiefel zu einem grummelnden Stapfen auf dem Steinboden.
Mit ausgebreiteten Armen stand Erzbischof Hubert Walter vor dem Altar, auf dem ein silbernes Kruzifix und mehrere kleine Goldschalen platziert waren. Die Träger der königlichen Insignien legten die Kostbarkeiten dazu und stellten sich neben ihm auf. Die Barone entfernten den Baldachin über John und rollten ihn zusammen. Danach traten sie beiseite.
Der Kirchenfürst, dessen faltiges Gesicht den Schweiß nicht aufsaugte und den Saum seines schneeweißen Gewandes am Hals nässte, wartete geduldig, bis die letzten Männer ihren Platz gefunden hatten und das Portal hinter ihnen geschlossen wurde.
Stille legte sich über die Anwesenden und Johns Miene versteinerte. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet und ihm wurde bewusst, dass von diesem Moment jede seiner Regungen genau beobachtet werden würde.
Verflucht, ein Königreich für einen Krug Wein, ich schwanke so oder so, dachte er und bemühte sich, einen aufkommenden Schwindel und ein Grinsen zu unterdrücken.
»Alle, die ihr hier seid, höret, denn es sei euch kundgetan, dass nur der das Recht auf die Königswürde hat, der einstimmig und mit Gottes Willen, wegen seiner Verdienste und seines edlen Charakters gewählt wird«, begann Hubert Walter, seine Stimme hallte bis in den letzten Winkel der Kirche. »So werden die, welche sich durch Tugend, Demut und Frömmigkeit auszeichnen, mit der Königswürde belohnt. Wenn aber ein Verwandter eines verstorbenen Königs andere an Verdienst übertrifft, so soll jeder nur umso freudiger seiner Wahl zustimmen. Wir haben dies gesagt, um die Sache des hier anwesenden Grafen Johann zu unterstützen. Er ist der Bruder unseres erlauchten Königs Richard, der ohne Leibeserben den Weg zu Gott fand.«
Er räusperte sich und wandte seinen Blick zu John.
»Graf Johann, Ihr wollt König sein. Schwört Ihr, alle Tage Eures Lebens Ehre und Ehrfurcht vor Gott, der Heiligen Kirche und ihren Verordnungen zu üben und den Frieden der Heiligen Kirche und des christlichen Volkes zu wahren?«
»Ich schwöre«, antwortete John.
»Schwört Ihr, dass Ihr gegenüber den Menschen, die sich Eurer Obhut unterstellen, wahre Gerechtigkeit walten lassen werdet und Barmherzigkeit in Euren Urteilen zu wahren?«
»Ich schwöre.«
»Schwört Ihr, schlechte Gesetze und ungerechte Bräuche aufzuheben, falls solche in Eurem Königreich eingeführt wurden, und gute Gesetze zu erlassen und diese ohne Betrug oder böse Absicht zu befolgen?«
»Ich schwöre.«
Der Erzbischof nickte und richtete seine letzte Frage an alle Versammelten. »Ihr kirchlichen und weltlichen Würdenträger, Volk von England, wünscht ihr einen solchen Herrscher und gewährt ihm die Macht zu regieren?«
An dieser Stelle des Rituals stockte John einen Herzschlag lang der Atem, er schloss die Augen.
»Wir wünschen und gewähren es«, erklärten die Männer in den vordersten Reihen laut und ihr Ruf pflanzte sich bis nach hinten zum geschlossenen Portal fort. John hob erleichtert die Lider und sein Blut kehrte heiß unter die angespannte Gesichtshaut zurück.
»Nun, da es von jedermann kundgegeben wurde, und da der genannte Graf klug, mutig und adlig ist, haben wir ihn seiner Verdienste und seines königlichen Blutes wegen mit Gottes Willen zum König gewählt.«
Der Erzbischof nickte vier Bischöfen zu, drehte sich zum Altar um und nahm ein goldenes Schüsselchen mit geweihtem Öl in beide Hände, dem wohlriechenden Chrisam. Die Geistlichen traten zu John und entkleideten ihn bis auf Unterhemd und Stiefel, wobei sie das Hemd von seinen Schultern bis zum Bauchnabel öffneten. Ein kalter Luftzug strich über seinen Körper, Gänsehaut kräuselte sich an den Unterarmen. Hubert Walter fuhr mit der Zeremonie fort und träufelte zuerst ein paar Tropfen des Öls auf seine Stirn und verstrich es mit zitternden Fingern.
»Ich salbe nun im Namen des Allmächtigen Eurer Haupt, den Sitz des Wissens«, sagte er laut. Ein wenig Flüssigkeit landete auf Johns Schlüsselbeinen. »Und Eure Brust, wo die Tapferkeit wohnt, und nun Eure Hände, die den Ruhm im Namen Gottes und der Menschen erstreiten werden. Empfange hiermit das Heilige Sakrament und den Segen des Herrn und die Gabe des Heiligen Geistes.« Hubert schloss die Augen und legte seine rechte Hand segnend auf Johns Kopf.
Zwei Gebete murmelnde Mönche gesellten sich zu ihnen und schwenkten qualmende Weihrauchgefäße an silbernen Ketten, um die Aura des neuen Königs zu reinigen.
John sog den nach Lavendel und Rosenwasser duftenden Geruch des heiligen Salbungsöls in die Nase und atmete gleichzeitig den Rauch ein, der in seiner Kehle kratzte und einen jähen Hustenanfall auslöste. Erschrocken zog der Erzbischof seine Hand zurück.
»Schon gut, Eminenz, fahrt fort«, krächzte John mit tränenden Augen und winkte den Mönchen zu. »Haltet ein wenig Abstand, ihr räuchert mich ja wie einen Fisch«, brachte er noch hervor.
Hubert Walter verzog missbilligend die Lippen und bedeutete den vier Bischöfen, John die Krönungsgewänder anzulegen, was sie eilig bewerkstelligten. Zuerst eine schneeweiße Tunika aus dick gesteppten und mit Goldfäden durchwirktem Brokat. Es folgten eine knielange Dalmatik aus feinstem Wollstoff mit zwei roten Längsstreifen, auf denen goldene Kreuze aufgestickt waren, und zum Schluss ein ledernes Schwertgehänge mit edelsteinbesetzter Schnalle.
Lord Waleran von Warwick übergab ehrfürchtig das goldene Reichsschwert dem Erzbischof, der es John überreichte.
»Empfangt hiermit das Schwert, mit dem Ihr die Übeltäter gegen Unsere Kirche zerschmettern werdet.«
John nahm es an sich und schob die Waffe umständlich in seinen Gürtel, die schwere Kleidung ließ ihm nur wenig Freiraum. Der Lord von Clare und Ranulf de Blondeville knieten vor ihm nieder und schnallten die goldenen Sporen um seine Stiefel. Danach hängten sie ihm den scharlachroten samtenen Krönungsmantel mit seidenweichem Hermelinfell um und verschlossen ihn an der Schulter mit einer aus Gold getriebenen Fibel.
»Ich verbiete Euch im Namen des allmächtigen Gottes, Euch die Würde der Krone anzumaßen, es sei denn Ihr habt die hehre Absicht, Eure Eide und Gelübde zu erfüllen«, mahnte Hubert Walter. John schaute ihn verdutzt an, diesen Satz hatten sie am Abend zuvor nicht geprobt. Glaubt dieser alte Narr ernsthaft, ich würde jetzt nein sagen?
»Mit Gottes Hilfe werde ich alle beachten«, presste er stattdessen hervor, trat entschlossen an den Altar, nahm die Krone und überreichte sie dem Erzbischof. Anschließend sank er vor ihm nieder.
»So empfangt jetzt Englands Krone, Johann, erster König Eures Namens! Möge der Segen des Allmächtigen auf Eurer Herrschaft ruhen!«, rief Hubert Walter und drückte ihm die schwere Krone auf das lockige dunkle Haar. John erhob sich, der Erzbischof gab ihm das Zepter in die rechte und den königlichen Stab in die linke Hand.
»Lang lebe König Johann!«, schallte es durch das Kirchenschiff und wurde dreimal von den Männern wiederholt, die ihre Schwerter zogen und zum Dach des Gotteshauses reckten.
Zwei Bischöfe führten John zu einem Lehnstuhl rechts des Hochaltars, von dem aus er die folgende Messe zu Ehren Christi Himmelfahrt nur mit halbem Ohr verfolgte.
Er hatte erwartet, nach der heiligen Zeremonie eine Erleuchtung zu erfahren, zumindest eine weise Einflüsterung Gottes oder auf Wolken zu schweben, doch die Krone und die schweren Gewänder drückten ihn in den Sitz.
Steif saß er da, bemüht um seine Haltung, während ihm das rechte Bein einschlief und unsäglich kribbelte.
Nach der schier endlosen Predigt des Erzbischofs erhob er sich ungelenk. Sein Kämmerer de Burgh reichte ihm einen Lederbeutel, gefüllt mit einem Pfund dicker Goldmünzen, den er auf dem Altar als Gottesgabe darbrachte.
Glockengeläut setzte ein, das Portal wurde geöffnet und die Männer formierten sich erneut zu einem Zug, in der gleichen Aufstellung wie vor der Krönung die Abtei verließ.
Der Regen hatte zugenommen, dennoch hatten hunderte Schaulustige ausgeharrt und begleiteten die Prozession mit Hochrufen und Beifall. John hatte Mühe, in seiner unbequemen Kleidung mit den eilig voranschreitenden Männern Schritt zu halten, welche den Schauern möglichst schnell entgehen wollten, die auf den Baldachin über ihm prasselten.
Ihre Eile kam ihm entgegen, er war hungrig und vor allem durstig. Der Duft gebratenen Fleisches von zwei Dutzend fetten Ochsen, die sich hinter dem Königspalast vor der großen Halle über riesigen Feuern an Spießen drehten, wehte ihm um die Nase, sein Magen meldete sich vernehmlich.
Wenig später, nachdem er die Insignien der Macht abgelegt, sich der schweren Roben mit Hilfe zweier Diener entledigt und sich für das Fest umgezogen hatte, war er für einen Moment allein in seinen Gemächern.
John, König von Britannien, Herrscher über Irland und Wales, der Normandie und Aquitanien, Graf von Mortain, Anjou, Tours und Maine und Oberherr der Bretagne und der Gascogne. Diese Worte wiederholte er leise mehrere Male.
Von wegen Ohneland.
Er ballte die Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten, und seine Lippen verbreiterten sich zu einem fast schmerzhaften Grinsen. Endlich setzte die Hochstimmung ein, die er seit Tagesbeginn vermisst hatte. Endlich stürzte den halben Inhalt eines Weinkrugs in seine Kehle, den seine Diener ihm nach einem schroffen Befehl gebracht hatten. Der erste, den er als gesalbter König erteilte.
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