Leseprobe
"Der dunkle Erbe"
von
Tom Melley
Eleonore
Beaufort, April 1199
Die weiten Felder um die Burg Beaufort trugen noch keine Früchte um diese Jahreszeit, doch sprossen aus den gepflügten Äckern hunderte brauner Zelte wie Warzen auf rissiger Haut. Lagerfeuer qualmten zwischen ihnen und ihr Rauch vereinigte sich zu einer Wolke, aus der sich düster der wuchtige Donjon der Befestigung auf einem Felsplateau in den Himmel reckte. Zu dessen Füßen klebten Dutzende Häuser, die eine steinerne Kirche umringten, geschützt durch Erdwälle und hölzerne Palisaden.
»Richards Söldner, ich schätze, mehr als tausend«, sagte Sir Alan. Er zügelte sein Ross neben Marshal und wies auf einige Löwenbanner, die er an langen Stangen in der Ferne ausgemacht hatte.
William folgte seinem Blick und hob erstaunt eine Augenbraue. Er hatte die Kriegsmacht des toten Königs über zweihundert Meilen südlich vor Châlus vermutet. Sie hier zu sehen, war überraschend. Söldnerheere zerstreuten sich für gewöhnlich, wenn die Bezahlung ausblieb. Brabanzonen nannte man sie, Krieger, die mit Langspeeren, Dolchen, Hackmessern und einem Gewissen aus seelenlosem Eisen bewaffnet waren. Sie gehorchten einzig dem Ruf von Gold, Silber und Beute und dem Mann, der es ihnen bisher verschafft hatte.
Mercadier war der Name ihres Anführers, ein breitschultriger, narbenübersäter Kriegsknecht, der es in Richards Diensten zu einigem Reichtum gebracht hatte. William kannte ihn von etlichen Feldzügen her, ein Kriegshund mit stets hungrigem Magen. Jemand schien ihn mit Silber gefüttert zu haben, sonst hätten seine Mordbrenner diesen Gewaltmarsch nordwärts bis Beaufort nicht auf sich genommen.
William befahl, das Banner seines Hauses auszurollen, und sie spornten ihre Pferde zum Trab an. Sie ritten am Lager vorbei, einige Kriegsknechte erhoben sich von ihren Lagerfeuern, um die Neuankömmlinge zu betrachten.
»Ist das Wappen von Lord Marshal«, sagte ein barhäuptiger Mann, dessen Haare fettig bis zu den Schultern hingen.
»Ist das der Große da?«, fragte ein blasser Jüngling, der erst seit kurzem der Gemeinschaft angehörte, und kratzte sich unter den Achseln.
»Ist er. Der berühmte Marshal, angeblich hat er fünfhundert Ritter aus dem Sattel gehoben«, bekam er zur Antwort.
»Fünfhundert? Kein Mensch besiegt allein ein Heer!«
»Dein Verstand ist so groß wie der einer Schmeißfliege, Pierre Blödmaul. Nicht auf einmal, du Trottel. Nacheinander, in etlichen Turnieren! Und zehn Dutzend hochgeborene Jungfrauen hat er als Preise dazu gewonnen.«
Pierre hielt sich mit einem Daumen ein Nasenloch zu und schniefte es frei. »Ach ja? Ich wüsste aber, was ich mit hundert Weibern anfangen würde …«
»Wahrscheinlich ihre Zöpfe flechten, du Milchbart. Der Engerling zwischen deinen Beinen taugt kaum zum Pissen!«
Die Umstehenden grölten vor Lachen und schauten dem Reiterzug nach, der die Wälle der kleinen Stadt durch ein Holztor passierte. Sie ritten hinauf zur Burg und wurden kurz hinter der Zugbrücke von William de Briouze empfangen.
»Der Lord von Striguil! Ich traue meinen Augen kaum! Runter vom Gaul und lasst Euch umarmen!«, rief er.
Marshal saß ab und warf einem herbeigeeilten Knappen die Zügel zu.
»Lord von Bramber. Euch hier zu sehen, ist mir eine Freude.«
Sie umarmten sich und William betrachtete anschließend den Ritter. Zum letzten Mal hatten sie einander am Weihnachtshof des Königs in Rouen gesehen.
De Briouze war kaum kleiner als William und trug ein knielanges Kettenhemd über seinem stämmigen Körper. Das lichte graue Haar war zu Borsten geschnitten, sein kantiges Gesicht bartlos und wie aus dem Holz einer alten Eiche geschnitzt. Eisgraue Augen, schmale Lippen und ein Spalt im vorspringenden Kinn gaben ihm ein gewalttätiges Aussehen. Die wulstige Narbe, die von der gebrochenen Nase bis zum rechten Ohr verlief, verstärkte den Eindruck. Er sei hartherzig, gierig und erbarmungslos, meinten seine Feinde, und das wären noch die besten Eigenschaften an ihm.
William schätzte seine Treue zum Königshaus, durch welche der grimmige Kriegsmann zu einem bedeutenden Fürsten aufgestiegen war, zum Herrscher über ein Dutzend walisische Burgen Er war sein nördlicher Nachbar in den Welsch Marches. Fast im gleichen Alter, ähnelte sich ihr Werdegang an Richards Hof, wobei de Briouze nie an einem Turnier teilgenommen hatte. Er würde eher den Teufel zum Tanz bitten, als mit stumpfen Waffen sein Leben aufs Spiel zu setzen, war einer seiner Grundsätze.
»Marshal, Ihr kommt leider zu spät. Der König wurde bereits vor ein paar Tagen im Kloster Fontevrault beigesetzt«, erklärte de Briouze. William winkte ab. Gemeinsam schritten sie über den Burghof hinüber zum vierstöckigen Donjon.
»Ich suche seinen Bruder, um ihm zur Seite zu stehen. In Eurem Brief stand, Richard habe verfügt, er sei der Erbe des Reiches.«
»Das stimmt. Bevor das Wundfieber dem König die Sinne verwirrte, waren das seine letzten klaren Worte. Mercadier, dessen Leibarzt und ich standen an seinem Lager.«
»Die Bezeugung eines Söldners bedeutet nichts, Eure Aussage wiegt weitaus schwerer. Hat er gelitten?«
»Richard? Zum Teil. Gestorben ist er im Schlaf, doch vorher hat ihm der Wundarzt die Spitze des Armbrustbolzens aus der Schulter geschnitten. Er schrie weniger laut wie der Schütze, der ein paar Tage später vor der Burg von Mercadier gehäutet wurde. Der Hauptmann war außer sich vor Zorn, weil ihm die Kuh geschlachtet wurde, die jahrelang silberne Milch für sich und seine Leute spendete. Wohl auch, um sein Versäumnis zum Schutz des Königs zu verschleiern.«
»Wie konnte das nur geschehen? Stürmte Richard etwa allein die Mauern von Châlus?«
»Nein. Er ritt nur mit Wams und Helm zur Burg, um nach einer Schwachstelle in der Befestigung zu suchen. Mercadier war hinter ihm, statt ihn von vorn mit dem Schild zu schützen. Ein Zufallstreffer, normalerweise kaum tödlich, doch ich denke, die Spitze war in Kot getränkt. Oder das verdreckte Messer des Wundarztes war schuld am Wundbrand, an dem der König so schnell starb. Möge er in Frieden ruhen, den er im Leben nie gesucht hat.«
»Amen. Doch Frieden wird es auch jetzt nicht geben. Auf dem Weg hierher begegnete ich Guillaume de Barres, der aus Le Mans kam und Herzog Arthur mit seiner Mutter aus der Stadt geleitete. Dort haben sich etliche Adlige getroffen, um ihm als Richards Nachfolger zu huldigen.«
»Der Eidbrüchige? Gott, Ihr hättet den Krieg beenden können, bevor er anfängt. Warum habt Ihr ihn und den Kinderherzog nicht gleich aufgespießt?«
»De Barres Männer waren zu zahlreich, unter ihnen waren zwei Dutzend Armbruster. Außerdem darf der Gottesfrieden vor dem Osterfest nicht gebrochen werden. So musste ich sie unbehelligt ziehen lassen.«
»Ach Marshal, Ihr und Eure Regeln von Edelmut und Gottesfurcht. Wir sind doch alle längst verdammt, weil wir Christenblut vergossen haben wie andere schales Bier. Ich hätte mich nicht um die göttliche Waffenruhe geschert, dessen könnt Ihr sicher sein. Obwohl, zwei Dutzend Armbrustbolzen widersteht keine Rüstung. John wird das hoffentlich ebenso sehen, wenn Ihr Euch begegnet. Er hat seine eigene Meinung zu strengen Kirchenbräuchen, wie man sagt. Außer zum fleischlosen Karfreitag, den liebt er und stopft sich jedes Jahr mit Neunaugen bis zum Erbrechen voll. Doch darauf wird er dieses Ostern verzichten müssen, hier gibt es diese Schlangen mit Flossen nicht.«
»Ist er hier? Ich muss ihn sprechen.«
»Nein, aber er wird bald kommen, wenn er klug ist. Die Königinmutter weilt hier, um mit ihrer Schwiegertochter den Verlust ihres Sohnes zu betrauern. Sie ist die Einzige, die genug Einfluss bei den Adligen des Südens hat, um John auf den Thron zu helfen und sich gegen den Frankenkönig zu wehren. Ich hörte, er wäre in Chinon und hätte sich den Kronschatz mit Hilfe des Seneschalls Robert de Turnham gesichert.«
»Das habe ich vermutet. Ich werde ihm als Erbe seines Bruders huldigen. Ihr doch auch, hoffe ich?«
»Wir beide haben doch nun wirklich keine Wahl. Arthur kann kaum allein ein Pferd besteigen, geschweige denn einen Thron. Der Junge hat keinen Schimmer, wie man Männer wie uns für treue Dienste belohnt. Seine Mutter hat sich widerwillig zweimal von Richards Bruder Gottfried bespringen lassen, der Allmächtige hab ihn selig. Sie hat eine Tochter und diesen einfältigen Sohn zur Welt gebracht, von dem sie sich zum Ausgleich für ihre ungeliebten Bettspiele die Regentschaft über England erhofft. Außerdem, wer bin ich, dass ich des Königs letzten Willen missachte? Ich stehe zu John. Er mag seine Schwächen haben, doch er wird unseren Beistand zu würdigen wissen.«
Ein schlankes Mädchen mit hellen Haaren, gekleidet in ein dunkles Gewand, dessen Halsausschnitt und lange Ärmel mit kostbarer Goldborte umsäumt war, kreuzte ihren Weg, blieb stehen und verbeugte sich tief vor ihnen.
»Verzeiht Ihr Herren, wer von Euch ist der, den man den Marshal nennt?« Ihre Stimme war hoch und zitterte vor Aufregung.
»Euer Ruf als begnadeter Lanzenstecher eilt Euch voraus, will mir scheinen. Ihr bringt die Weiber immer noch um den Verstand, obwohl Ihr ausseht wie ein borkiger Holzklotz auf Beinen.« De Briouze lachte dröhnend über seinen anzüglichen Witz, William dagegen verzog keine Miene.
»Ich bin William Marshal. Was willst du?«, fragte er brummig.
»Meine Herrin … Herzogin Eleonore … Ihr wurde zugetragen, dass Ihr hier eingetroffen seid … Sie wünscht, Euch zu sehen«, antwortete sie eingeschüchtert.
»Ich bin eben erst angekommen. Voller Staub und Schlamm will ich Ihrer Hoheit nicht gegenübertreten. Richte ihr aus, sobald ich mich umgezogen habe, folge ich gern ihrem Wunsch.«
»Bitte verzeiht, aber sie sagte, Ihr sollt sofort … ich meine, sie hat vorausgesehen, Ihr würdet so antworten. Ihr müsst jetzt mit mir kommen. Es ist dringend.«
De Briouze hüstelte leise und klopfte dem überraschten Ritter auf die Schulter. »William, Euer Ruf glänzt golden selbst durch gröbsten Dreck. Lasst Eleonore nicht warten, sie ist nicht altersmilde geworden und kann sehr ungemütlich werden, wenn man ihren Befehlen nicht gehorcht. Ich sorge für Eure Männer.«
William nickte achselzuckend und bedeutete der jungen Hofdame, ihm voranzugehen. Sie führte ihn zum Eingang des Palas, der an der Westseite der Burg mit der Wehrmauer verbunden war. Ein steinerner grauer Klotz, dreißig Fuß hoch und ebenso lang. Nur im obersten der zwei Stockwerke durchbrachen rundbogige Fenster die Mauern. Das Mädchen zog hinter der Eingangstür einen blakenden Kienspan aus seiner Wandhalterung und sie erklommen eine steile Holztreppe nach oben. Am Ende eines Flurs zeigte sie auf eine halb angelehnte Tür, durch die William in einen düsteren Raum eintrat.
Bis auf ein hölzernes Bettgestell, bedeckt mit Seidenkissen und Schaffellen, einen fünfarmigen eisernen Leuchter, auf dem armdicke Wachskerzen wenig Licht verbreiteten, und einen Lehnsessel, war er karg ausgestattet. Nur eine kunstvolle Vase aus Glas und Gold, auf deren Sockel vielfarbige Edelsteine schimmerten, verriet, dass hier eine hochgestellte Dame wohnte. Ein bescheidenes Büschel gelber Ginsterzweige steckte in dem Gefäß, einige verwelkte Blüten waren auf den kleinen Tisch gefallen, auf dem sie stand.
Die Gestalt am Fenster blickte hinaus auf den sterbenden Tag und drehte sich erst um, nachdem sich William leise räusperte und auf die Knie sank.
Zuerst vermeinte er, Eleonore hätte ihr Gesicht mit einem Gespinst aus dunklen Seidenfäden verhüllt, doch es waren unzählige Fältchen, die es überzogen und im Licht der untergehenden Sonne scharfe Schatten warfen. Ihre braunen Augen waren rot umrandet, so wie die Flügel ihrer kleinen Nase. Sie trug ein mit hunderten Perlen besticktes Samtgewand, schwarz wie eine sternenklare Nacht. Ihr Gebende war aus dem gleichen Stoff und verbarg ihr einst so volles rotbraunes Haar, dennoch lugten einige graue Locken an Stirn und Schläfen hervor.
»William Marshal. Ich bin sehr froh, Euch zu sehen.«
Ihre Stimme klang sanft und guttural, der rollende Akzent verriet noch nach Jahren unter Englands Himmel ihre okzitanische Herkunft aus dem Süden. Er hatte diese Sprache lange nicht gehört, die die Dichter und Troubadoure für ihre Lieder bevorzugten, die früher Eleonores Hof bevölkert hatten. Seit damals, als er in das Gefolge der Königin aufgenommen worden war und sein Aufstieg vom verarmten Ritter zum Lord begonnen hatte. Die unbeschwerteste Zeit seines Lebens.
»Eure Hoheit, ich bedaure zutiefst Euren Verlust«, presste William hervor, der angesichts ihres jammervollen Zustandes keine besseren Worte fand. »Man sagt, wen Gott liebt, den holt er zuerst zu sich«, fügte er hinzu, um wenigstens etwas Tröstendes zu sagen. Eleonores schmales Gesicht überflog den Hauch eines Lächelns.
»Dann muss er mich wahrlich hassen. Vier Söhne hat er mir genommen und mich lässt er alt und zu einer verfallenen Ruine werden. Ich danke Euch. Erhebt Euch doch bitte, der Boden hier ist kalt wie in einem Grab.«
William stand auf, sein Kettenhemd raschelte metallen und sein Schwert klirrte leise im Gürtel.
»Setzt Euch auf den Stuhl dort, mein Nacken schmerzt und wenn Ihr steht, kommt es mir so vor, als würde ich mit einem eisernen Turm reden.«
Sie zog ein Tüchlein aus dem Ärmel ihres Gewandes und schnäuzte leise hinein. »Beim Allmächtigen, ich kann kaum so viel trinken, wie ich Tränen vergieße.«
Unvermittelt erhob sie ihre Stimme: »Sophie! Sophie! Bring Wein für mich und meinen Gast, sofort!« Ihr Ruf gellte befehlsgewohnt durch den Raum bis in den Flur, bar jeder Trauer.
William nahm befremdet Platz in dem Lehnstuhl und betrachtete die hagere Königin, in deren Augen sich Kerzenschein wie kleine Feuer spiegelte. Er verstand gut, weshalb sich die meisten Adligen ihres Herzogtums nach so vielen Jahren immer noch ihrem Willen beugten, und auch, warum sich manche auflehnten. Ihm war nie wieder eine Frau begegnet, die Schönheit, Stärke und Klugheit so geschickt miteinander verband. Der jugendliche Liebreiz mochte durch etliche Schicksalsschläge und das Altern vergangen sein, ihr Machtbewusstsein dagegen war ungebrochen.
»Gott, schaut mich nicht so an. Ich bin faltig wie eine vertrocknete Weintraube. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?«
»Vor fünf Jahren in Winchester, fast auf den Tag genau. Zur zweiten Krönung Eures Sohnes, nachdem Ihr ihn aus der schmachvollen Gefangenschaft des Kaisers freigekauft habt«, antwortete er ohne Zögern.
»Richtig, ich erinnere mich. Wir stellten damals seine Ehre wieder her. Ihr habt Euch seitdem nicht verändert, was ist Euer Geheimnis? Eure junge Frau? Das soll ja bei Männern Wunder bewirken, wie mein ungetreuer Gemahl einst meinte, der so viele Bastarde zeugte, wie andere aschgraue Haare verlieren. Ich hörte, man besingt ihre Schönheit.«
»Sie ist das Licht meiner Nächte und bringt Glanz in trübe Tage, Eure Hoheit.«
»Gesprochen wie ein Troubadour. Sie ist zu beneiden. Der begehrteste Ritter an meinem Hof in Poitiers seid Ihr gewesen, doch nie habt Ihr den Versuchungen der Edelfräulein nachgegeben, die gern ihre seidigen Bettlaken in den warmen Nächten des Südens mit Euch geteilt hätten. Das rechne ich Euch hoch an.« Sie seufzte leise. »Ach William, zu dieser Zeit war mein Leben noch bunt, jetzt laufe ich in Schwarz wie eine Krähe. Wo sind sie hin, die Sänger, Tänzerinnen und Tänzer, die Spielleute und Gaukler, die mein Herz hüpfen ließen? Manchmal suchen mich die Erinnerungen heim, obwohl ich im Kloster Ruhe und Frieden gefunden hatte. Ich dachte, alles wäre geregelt, mein Richard auf dem Thron, die Adligen folgsam und eine hübsche Gemahlin in seinem Bett, die mir einen prächtigen Enkel schenken würde. Nicht so einen störrischen wie Arthur, der kaum ein Wort ohne die Hilfe seiner Mutter über die Lippen bringt. Ich habe Unsummen für das Seelenheil meiner Familie gespendet, Abteien gestiftet, alles zum Lob des Herrn. Und dann dieser elende Armbrustbolzen.« Sie wandte sich mit grauem Gesicht zum Fenster.
»Den halben Tag verbringe ich damit, hinaus in die Weite zu starren, als ob von Ferne die Rettung für das Reich meines Sohnes nahen würde. Dann gewahrte ich Euer Banner, William, und es gab dieser Hoffnung neue Nahrung. Seid Ihr hierher in den Süden geritten, um Richard die letzte Ehre zu erweisen?«
»Das würde ich gern, aber deshalb bin ich nicht …«
»Er hat nun seine Ruhe im Kloster Fontevrault gefunden«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich habe mich dort sogar mit Henry versöhnt, zugegeben nach dessen Tod. Ich bin mir nicht sicher, ob er mit seinem Grab im Kloster einverstanden gewesen wäre, sittsame Nonnen mochte er nie. Gott vergibt mir sicher diese kleine Rache an seiner Untreue.«
Ein Klopfen am Türrahmen unterbrach ihr Geständnis und sie hob die Hand. Ihre Hofdame trug schwer an einem aus Silber getriebenen Weinkrug und den dazu passenden Bechern. Eleonore nahm die Vase mit dem Ginster vom Tisch und stellte sie auf die Fensterbank. Hastig schenkte das Mädchen ein, knickste tief und verließ das Gemach.
Gedankenverloren schaute die Herzogin den Zweig an, der erneut zwei welke Blüten verlor. Nach einem stillen Moment flüsterte sie, mehr zu sich selbst: »Richard neben seinem Vater in dieser öden Gruft zu bestatten, war mir ein Gräuel. Ich werde sie beide dort herausholen lassen, aus diesem Ort eine Grabstätte machen, die es mit denen der Herrscher von Byzanz und Jerusalem aufnehmen kann. Lebensechte Abbilder aus Stein werden ihre Sarkophage tragen, die Menschen werden zu ihnen pilgern und ihr Ruhm wird unvergänglich sein.«
»Das ist er bereits jetzt. Schon zu seinen Lebzeiten erzählte man Legenden um König Richards Mut und Tapferkeit.«
»Eure Worte spenden mir Trost, Marshal. Doch wir beide wissen, was für ein närrischer Hitzkopf er sein konnte. Gott, dennoch habe ich ihn geliebt, vielleicht, weil er seinem hinterlistigen und machtversessenen Vater so wenig ähnelte. Johann hat die meisten seiner verworfenen Eigenschaften geerbt, fürchte ich. Dennoch ist er mein letzter Sohn.«
Eleonore drehte sich zu William um, in ihren glasigen Augen lag eine seltsame Mischung aus Traurigkeit und Entschlossenheit.
»Deshalb habe ich Euch rufen lassen. Ich kenne Euch, seitdem Ihr als blasser Jüngling ohne Manieren, aber voller Tatendurst an meinen Hof gekommen seid. Danach habe ich Euch dem Gefolge meines ältesten Sohnes zugeteilt. Ihr habt mit ihm die größten Turniere bestritten, die jemals stattgefunden haben. Zu früh sank er in die Arme des Allmächtigen. Später, an der Seite meines machtversessenen Gemahls, seid Ihr ein furchtbarer Gegner meiner Söhne gewesen, die sich zu Recht gegen ihn auflehnten. Richard gewann und nahm Euch in Gnaden in sein Gefolge auf. In seinem Dienst habt Ihr ihm gegen Johann die Treue gehalten, der seinen Bruder bereits tot in der Gefangenschaft sah und die Stufen des Throns fast erklommen hatte. Jetzt seid Ihr einer der einflussreichsten Barone des Reiches.«
Sie griff zum Weinbecher und prostete William zu, der daraufhin nachdenklich einen Schluck des roten Anjouweins nahm. Das Getränk war unverdünnt und rann wie warmes Blut durch seine ausgetrocknete Kehle. Die Königinwitwe musste ihn nicht an seine Vergangenheit an ihrem Hof erinnern, das besorgte schon die alte Narbe an seinem rechten Oberschenkel, die bei Wetterwechseln pochte wie ein wulstiges Herz.
Er verdankte sie der Speerspitze eines Söldners der Herren von Lusignan. Die widerspenstigen Grafen aus dem Poitou hatten sich damals gegen die Oberherrschaft des alten Königs Henry aufgelehnt, der ihren Widerstand mit Feuer und Schwert brach und ihren Besitz verwüstete.
Rachedurstig legten sie in den Wäldern vor der Stadt Poitiers einen Hinterhalt, um das Gefolge der Königin zu überfallen, die nach einer Rundreise durch ihr Herzogtum auf dem Rückweg in ihre Hauptstadt war. An diesem verhängnisvollen Tag ritt William in der Schar seines Onkels, Earl Patrick von Salisbury, der er seit wenigen Wochen angehörte. Sie begleiteten die Königin, niemand erwartete einen Angriff. Der Earl und seine Männer waren nur leicht bewaffnet, als die Knechte der Lusignans brüllend aus dem Unterholz hervorbrachen. Der angesehene Lord starb durch einen Lanzenstoß in den Rücken, ein furchtbarer Anblick für William, der aufschrie und sich auf die Angreifer stürzte.
Während Earl Patrick an seinem Blut erstickte, entkam die Königin, und ein halbes Dutzend ihrer Ritter deckte die Flucht. William hielt stand, vier Söldner starben durch sein Schwert, drei verletzte er schwer. Vor einer Brombeerhecke in die Enge getrieben, wehrte er sich verbissen gegen die Übermacht, bis von hinten ein Speerträger seine Waffe durch den Strauch hindurch in seinen Oberschenkel bohrte.
Man wagte nicht, ihn ebenfalls zu töten, das Verbrechen, einen Ritter und Lord des Königs umgebracht zu haben, wog bereits schwer genug. Die Lusignans beteuerten später, es habe sich um einen bedauerlichen Unfall gehandelt, man hätte den Fürsten ohne seine Rüstung für einen Knecht gehalten, was ihnen kein Adliger mit Ehre im Leib glaubte.
William trug ein Kettenhemd, welches er hastig übergeworfen hatte und ihn als Ritter auswies. Das rettete ihm das Leben.
Sie banden ihn nach seiner Gefangennahme auf einen Esel und es folgte eine wochenlange Flucht durch die Wälder Aquitaniens. Um seine Wunde musste er sich selbst kümmern, sie verheilte zu einer langen Narbe, bis Gesandte der Königin den Entführern ein Lösegeld für ihn überbrachten. Sie hatte vom Mut und Einsatz des Kriegers nach ihrem Entkommen gehört und entschieden, ihn freizukaufen. Fortan diente er in ihrem Gefolge, bis der alte König und seine Gemahlin ihn zum ritterlichen Begleiter und Waffenmeister des ältesten Sohnes Henry bestimmten.
Wahrscheinlich verdankte er Eleonore sein Leben. Ohne ihr Lösegeld wäre er längst mit einem Strick um den Hals an einem Baum verrottet. William räusperte sich verhalten.
»Eure Hoheit haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Wobei, mein Einfluss auf Englands Fürsten hält sich in Grenzen und mein angeblicher Reichtum besteht in meiner Treue zu Euch«, gab er ausweichend zur Antwort.
In Eleonores Gesicht kehrte ein wenig Farbe zurück, sie hatte den Becher in einem Zug leergetrunken.
»Wisst Ihr, William, jeder hat im Leben etwas, was von Bedeutung für ihn ist. Für mich ist das die Familie. Ihr zählt dazu, seid Euch dessen bewusst. Das habt Ihr von Anfang an. Ich brauche Euch jetzt, Johann braucht Euch jetzt.«
»Ihr könnt beruhigt sein. Der einzige Grund, weshalb ich hier bin, ist Prinz John zu unterstützen und ihm meine Treue zu versichern.«
Die Königin nickte unmerklich, aber William sah keine Spur von Erleichterung in ihrem Gesicht. »Nichts anderes habe ich von Euch erwartet.« Ihre Stimme klang gepresst. »Doch ich kenne meinen Sohn besser als Ihr. Er ist kein König, dem die Männer wie einem ruhmreichen Helden folgen, der sich an ihrer Spitze furchtlos in die Schlacht wirft, der sie mit Geschick und Beredsamkeit zu seinen treuen Gefolgsleuten macht, geschweige denn einer, dessen Wort man vertrauen kann.«
»Das … ist mir bekannt«, stimmte William zögernd zu, der nicht ahnte, worauf die Königinwitwe hinauswollte.
»Ich weiß, Ihr werdet Euer Bestes geben, um ihn zu unterstützen. Doch das reicht mir nicht. Schwört mir, und mir allein, nicht dem Reich, nicht dem künftigen König. Bei Eurer Ehre als Ritter und beim Leben Eurer Gemahlin und Euren Nachkommen, dass Ihr meinem Sohn die Treue halten werdet.«
William hob eine Augenbraue und schaute Eleonore voller Unverständnis an.
»Ich werde John mein Wort geben, sobald ich ihm begegne. Ich erkenne ihn als Lehnsherrn an, es gibt keinen Grund für Eure Zweifel«, erklärte er mit leisem Vorwurf in der Stimme.
»Ihr werdet zweifeln, William, glaubt mir. Und nicht nur Ihr. Ich gebe Euch hier und heute fünfhundert Pfund in Silber für Euren Schwur und weitere zweitausend für die aufgerissenen Rachen der wankelmütigen englischen Barone. Bringt sie dazu, meinen Sohn auf den Thron zu setzen. Ihr verfügt über die Macht, dies zu erreichen, ich weiß es.«
Im ersten Moment war William versucht, das Angebot entrüstet zurückzuweisen. Noch nie hatte er ein gegebenes Wort gebrochen, nur ein einziges Mal einen falschen Eid geleistet. Doch davon wusste nur noch er. Die berückende und untreue Gemahlin seines damaligen Herrn, Prinz Henry, war zeitlebens verschwiegen gewesen wie eine Gruft und längst gestorben, wie er hörte.
Für diese Sünde und die des Ehebruchs hatte er mit einer zweijährigen Wallfahrt ins Heilige Land zum Grab des Erlösers gebüßt.
Doch die Summe war zu hoch, um sie abzulehnen, einhundert Pfund jährlich brachten ihm seine Ländereien ein, wenn die Ernte gut ausfiel und keine Viehseuchen oder Kriege mit den Walisern ausbrachen. Der Hauptsitz seiner Herrschaft in Striguil war zu schwach, um einer ernsthaften Belagerung standzuhalten. Die Burg wurde derzeit umgebaut, neue Mauern und Türme hatte er in Auftrag gegeben. Mit diesem Geldsegen könnte er nicht nur die Kosten decken, sondern weitere Befestigungen errichten, die sie uneinnehmbar machen würden.
Eleonore deutete sein Schweigen anders. Sie sank unvermittelt vor ihm auf die Knie. »William, ich weiß, es ist nicht viel, doch ich werde dafür sorgen, dass Johann Euch zusätzlich belohnen wird.«
Erschrocken über diese unterwürfige Geste der Königinwitwe stemmte er sich aus dem Sitz und half ihr wieder auf die Füße, um augenblicklich selbst vor ihr zu knien.
»Um Gottes Willen, Hoheit, seid Ihr von Sinnen? Des Silbers hätte es für mich nicht bedurft, doch wird es helfen. Ich schwöre Euch beim allmächtigen Christus, meinem Leben, dem meiner Gemahlin und meiner Nachkommen, Eurem Sohn die Treue zu wahren. Was immer geschieht, ich werde zu ihm halten.«
Aus Eleonores Augen verschwand die Unsicherheit, sofort wandelte sich ihr demütiger Gesichtsausdruck in den einer entschlossenen Herrscherin.
»Gut. Sehr gut. Mein Kämmerer wird Euch das Silber heute noch übergeben. Erhebt Euch, Lord Marshal. Ihr müsst spätestens morgen nach England aufbrechen, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Wie Ihr befehlt«, antwortete William, bemüht, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Doch wollte ich Eurem Sohn persönlich meinen Eid leisten und ihn nach Rouen zu seiner Einsetzung als Herzog der Normandie begleiten, die Erzbischof Hubert Walter derzeit vorbereitet. Wir waren der Meinung, ich sollte an Johns Seite bleiben.«
»Ihr meint, um Johann vor Dummheiten zu bewahren, nicht wahr? Das könnt ihr mir überlassen. Er ist auf dem Weg hierher, wie mir berichtet wurde. Der Erzbischof von Canterbury ist also für uns? Ausgezeichnet, dann wird er ebenfalls die Krönung meines Sohnes zum König von England ohne Schwierigkeiten durchführen. Eine erfreuliche Nachricht. Eure Anwesenheit in Rouen ist nicht nötig. Wichtiger ist, die Ergebenheit der Barone auf der Insel zu gewinnen.«
Die ungeliebte Aufgabe, Johns Amme zu spielen, hatte sich damit für William erledigt. Eleonores Befehl galt ihm mehr als die Absprache mit dem Erzbischof.
»Nun, Hoheit, um Englands Fürsten werde ich mich kümmern. Mir scheint, um die Treue Eurer Lehnsleute hier im Anjou ist es dagegen schlecht bestellt. Auf dem Weg hierher traf ich Guillaume de Barres, einen Heerführer von König Philipp. Er begleitete mit etlichen Männern den jungen Arthur Richtung Paris. Sie kamen aus Le Mans, angeblich haben ihm dort einige Adlige die Treue geschworen und würden ihn gern als neuen König sehen.«
»Das wurde mir bereits mitgeteilt und ich werde das nicht hinnehmen. Le Mans wird den Verrat büßen. Mercadier und seine Söldner brechen nach dem Osterfest auf. Sie haben den Befehl, die Stadt in Schutt und Asche zu legen.« Kalt wie Stahl brachte sie die Worte hervor, ihren Wangen erstarrten zu grauem Fels.
»Was Philipp anbelangt, ich wünsche ihm viel Freude mit meinem einfältigen Enkel. Ihn zum Verbündeten zu haben, wird für den Frankenkönig wie ein Dutzend unserer Siege im Voraus zählen, er weiß es nur noch nicht. Manchmal frage ich mich, ob durch Arthurs Adern wirklich mein Blut fließt, oder ob seine Mutter ihn mit einem ihrer Hofnarren gezeugt hat. Er ist nicht mein Problem, eher der honigzüngige Philipp, dessen Worte lammfromm klingen, aber dessen Taten stets neue Wunden in meine Familie schlagen. Wie sagt man doch, Heuchler sind die gefährlichsten Feinde. Aber ich werde ihn mit seinen eigenen Waffen besiegen.«
Insgeheim zollte William ihrem wachen Verstand seinen Respekt, der auch im hohen Alter einer scharfen Klinge gleichkam. Sie hatte nicht vergessen, wie man Königskronen aus Silber, Titeln und Land schmiedete. Er würde mit Freuden ihr Hammer sein.
»Wer Euch zur Feindin hat, benötigt wahrlich mehr als einen Knaben, sondern ein riesiges Heer von Kriegern.« William verbeugte sich. »Bitte entschuldigt mich jetzt, Hoheit. Ich muss Vorbereitungen für meine Abreise treffen, noch ehe ich richtig angekommen bin.«
»Ja, geht nur, Euer Magen knurrt bereits, noch habe ich ein gutes Gehör. Wir haben alles besprochen. Gott schütze Euch, mein teurer Marshal.«
Ein wenig Spott schien im letzten Teil ihrer Antwort zu liegen, aber er verstand das. Kluge Fürsten verteilten nie großzügige Geldgeschenke, ohne etwas dafür einzufordern, sie stellte da keine Ausnahme dar. Eleonore bemerkte sein sanftes Lächeln, in ihren geröteten Augen glomm ein Funken Schalk auf, und sie winkte ihn zur Tür hinaus.