TOM MELLEY
DAS RECHT DES BLUTES
LESEPROBE
Der Sarg setzte unsanft auf dem Boden der Grube auf, und ihr Gemahl fing an zu tanzen. Mit wiegenden Hüften summte er ein Lied und bewegte sich um das Grab.
Cecilias Tränen vermischten sich mit den Regentropfen, die aus dem grauen Himmel fielen. Sie hörte Pater Elias beruhigend auf den Mann einreden, der sich jetzt irrsinnig im Kreise drehte und dabei in die Hände klatschte.
Der Erbe des Herzogs von Spoleto, Rainald von Urslingen, war erkrankt, doch niemand wusste, woran. Er klagte über Kopfschmerzen, ständige Übelkeit und Muskelkrämpfe. In letzter Zeit hatte sich sein Zustand verschlimmert. Er redete wirr und sah zuweilen Gestalten aus der Vergangenheit, die längst tot waren. In einem seiner seltenen lichten Momente hatte er darauf bestanden, an der Beerdigung von Cecilias Mutter Jolande teilzunehmen. Wahrscheinlich nur, um sicherzugehen, dass die von ihm gehasste Schwiegermutter tatsächlich verstorben sei, vermutete Cecilia.
Jetzt brach seine Krankheit wieder durch. Sein treuer Knappe Veit sprang dem verzweifelten Pater bei, gemeinsam führten sie den singenden Rainald in die kleine Kapelle neben dem Friedhof.
Niemand sonst nahm an der Beerdigung an diesem nasskalten Januartag teil. Nur zwei Totengräber waren anwesend und schüttelten verständnislos ihre Köpfe über das merkwürdige Benehmen des Herzogsohns. Stumpf schippten sie Erde auf den Sarg, bis dieser vollkommen bedeckt war. Dann verbeugten sie sich kurz vor Cecilia und verschwanden schnell im dichter werdenden Regen.
Neben dem frisch aufgeschütteten Hügel steckte ein verwittertes Holzkreuz in einem eingesunkenen Grab, in dessen Mitte nur zwei Namen eingeritzt waren: Hildebrand und Gero. Cecilia schluchzte auf, die Erinnerungen an ihren Großvater überwältigten sie. Er wollte keinen Grabstein, ihre Mutter bestand zumindest auf einem Kreuz, das die beiden Namen zeigte, unter denen er zu Lebzeiten bekannt war. Drei Jahre nach seinem Tod lag sie jetzt neben ihm, und Cecilia respektierte ihren letzten Wunsch, an seiner Seite begraben zu werden. So wie sie immer alle Wünsche der beiden erfüllt hatte.
Sie krampfte ihre Hände ineinander und erinnerte sich. Es war der Wille ihres Großvaters, dem sie folgte, nachdem sie den Sohn des Herzogs vor drei Jahren heiratete. Es schien eine ausgezeichnete Wahl zu sein. Rainald war ein junger, gutaussehender Mann, schlank und kräftig, mit dunklen Augen und gelocktem Haar. Sein Vater, Konrad von Urslingen, war mit Hildebrand befreundet und hatte von ihm reichlich Silber als Brautgeld erhalten, welches er dringend benötigte, um sich seiner zahlreichen Feinde zu erwehren. Damals war Cecilia fünfzehn Sommer alt, aufgewachsen auf einem Landgut am Ufer des Trasimenischen Sees, das ihr Großvater für sich und ihre Mutter gekauft hatte.
Von ihrem Vater wusste Cecilia wenig. Ihre Mutter erzählte ihr, sie sei die Tochter eines sächsischen Adligen, den sie auf einer Wallfahrt ins Heilige Land kennengelernt habe. Angeblich befreite dieser Mann ihre Mutter aus den Fängen ihres niederträchtigen Halbbruders, der sie aus Sachsen ins Heidenland verschleppt hatte und dort starb. Weshalb sie sich letzten Endes von Cecilias Vater getrennt hatte, verriet sie aber nie.
Ihr schweigsamer Großvater, von dem sie ebenso wenig über seine Vergangenheit erfuhr, holte die schwangere Mutter aus dem Heiligen Land zurück und kaufte das kleine Anwesen in der Nähe von Spoleto, wo Cecilia das Licht der Welt erblickte. Dort verbrachte sie eine unbeschwerte Kindheit. Sie lernte Lesen und Schreiben von einem alten Dorfgeistlichen, ihre Mutter lehrte sie das Reiten, und ihr wortkarger Großvater nahm sie oft mit zum Fischen auf dem See.
Besuch erhielten sie nur wenig, die meiste Zeit war Cecilia allein und träumte von einem Prinzen, der sie aus ihrer Abgeschiedenheit befreien würde. Dagegen war sie selten einsam, ihre Mutter beschäftigte sich ohne Unterlass mit ihr. Sie erzählte oft voller Stolz, damals im Heiligen Land, habe sie in einem grünen Gewand mit Pfeil und Bogen gegen die Heiden Sultan Saladins gekämpft. Deshalb versuchte die Mutter, ihr das Bogenschießen beizubringen und sie zu einer Kriegerin zu erziehen, doch vergeblich. Cecilia hörte ihr zwar hingerissen zu, aber Waffen jagten ihr Angst ein, und sie stellte sich unbeholfen damit an. Sie spielte lieber mit den Puppen, die ihr Hildebrand aus weichem Weidenholz schnitzte, schneiderte ihnen Kleider und bestickte später Wandteppiche mit bunten Ornamenten.
Als ihr Großvater das Aufgebot bestellte, war ihre Mutter begeistert, ihre Tochter mit einem Spross aus adligem Hause zu verheiraten. Cecilia war weniger glücklich darüber, ihr behütetes Zuhause aufzugeben. Nachdem Rainald sie in der Hochzeitsnacht entjungfert hatte und sie ein halbes Jahr vergeblich versuchten, Nachkommen zu zeugen, erlosch sein Interesse an ihr. Das lag an ihrem zurückhaltenden Wesen, wie sie sich einredete. Er vergnügte sich lieber mit etlichen Mägden im Stroh und verbrachte außerdem seine Zeit bei ausgedehnten Jagden in den Wäldern. Dann ereilten schwere Schicksalsschläge die Familie. Zuerst starb Cecilias Großvater an Altersschwäche, kurz darauf die Gemahlin des alten Herzogs von Spoleto an der Schwindsucht. Dieser folgte ihr bald nach einem Schlagfluss ins Grab.
Vergeblich versuchte ihr Gemahl, die Herzogswürde nach dem Tod des Vaters zu erringen, doch wurde sie ihm verweigert. Zuerst durch Papst Innozenz, der gern das damit verbundene Land seinem Kirchenstaat hinzugefügt hätte. Das misslang in den Wirren eines Krieges, den Kaiser Otto anzettelte. Er ernannte schließlich einen seiner Gefolgsmänner, Diepold von Schweinspeunt, zum Herzog von Spoleto. Verbittert zog sich Rainald nach Foligno zurück, wo er einsam auf Rache sann und bald darauf krank wurde.
Cecilias Mutter wohnte unterdessen bei ihnen, unterstützte sie nach Kräften bei der Haushaltsführung und gegen ihren Mann, den sie mittlerweile von Herzen verabscheute. Aber sie erkrankte urplötzlich an derselben Krankheit wie Rainald und starb binnen dreier Monate. Aus diesem Grund hatte Cecilia wenig Hoffnung, dass ihr Gatte überleben würde.
»Herrin, Euer Gemahl sitzt bereits auf dem Wagen und schläft. Ihr solltet mit ihm zurück in den Palast fahren.«
Diese Stimme hinter ihr gehörte dem Knappen Veit von Eichstätten, der aus der Kapelle zurückgekommen war. Cecilia drehte sich um, wischte sich die Tränen vom Gesicht und nickte leicht.
Der Knappe legte ihr seinen Mantel um die Schultern, besorgt schaute er sie an: » Kommt, es ist kalt. Hier gibt es nichts mehr zu tun.«
Seufzend nahm sie seinen Arm. »Wenn ich dich nicht hätte …«
»Ohne Euch wäre mein Leben nicht mehr lebenswert. Das wisst Ihr.« Der junge Mann neigte sein Haupt. Das dunkle glatte Haar klebte nass an seinem kantigen, bartlosen Gesicht. Seine kastanienbraunen Augen, in denen sonst immer ein wenig der Schalk saß, schauten traurig.
Sie wusste, was er damit meinte. Vor drei Jahren war Veit in den Dienst ihres Gemahls getreten. Auf ihrer Hochzeit begegneten sie sich zum ersten Mal. Gaukler und Spielleute waren geladen worden und gaben nach dem Festmahl ihre Vorstellung. Veit stand in vorderster Reihe der Zuschauer, als ein Messerwerfer mit verbundenen Augen kunstvoll seine Dolche in Richtung einer zehn Schritt entfernten Maid warf und diese neben ihrem Kopf in eine Bretterwand einschlugen.
Cecilia erinnerte sich genau daran, wie er nur sie anschaute, ohne dem beeindruckenden Schauspiel Beachtung zu schenken. Rainald bemerkte es ebenfalls und wies ihn zurecht, er solle gefälligst seinen Blick abwenden, sie wäre seine Braut und er wisse wohl nicht, was sich gehören würde.
»Verzeiht, Herr, noch nie sah ich eine Dame von solcher Anmut. Ihr seid wahrlich gesegnet«, hatte Veit unverblümt geantwortet. Rainald hatte laut gelacht. »Knappe, wage es nicht, noch einmal meine Gemahlin in Verlegenheit zu bringen, sonst lasse ich dir die Haut in Streifen abziehen. Troll dich und himmle von mir aus meinen Gaul an!«
Veit gehorchte. Von diesem Zeitpunkt aber wurde sein Knappenleben unerträglich hart. Rainald war ein gestrenger Herr, der jede kleine Nachlässigkeit mit Schlägen bestrafte.
Dennoch blieb Veit ihm treu ergeben. Cecilia fragte sich damals oft, ob sie der Grund dafür war, denn in ihrer Gegenwart blühte der fünf Jahre ältere Knappe auf. So oft es ihm möglich war, suchte er ihre Nähe, dabei war er stets höflich und zuvorkommend.
Als sie sich besser kannten, brachte er ihr öfter einen kleinen Strauß Blumen mit, die er auf den Wiesen pflückte, oder besonders geformte bunte Steine, welche er im Flussbett des Topino fand. Einer von ihnen war weiß und herzförmig, dieser bekam einen Ehrenplatz auf dem Tischchen neben ihrem Bett.
Ihre Mutter mochte Veit dagegen nicht leiden, er hätte falsche Augen und würde nur bei ihr, seiner Herrin, katzbuckeln. Doch sie genoss seine unschuldigen Aufmerksamkeiten, die sie von ihrem untreuen Ehemann niemals erhalten würde.
Während Jolandes Erkrankung und der ihres Gemahls blieb Veit stets an Cecilias Seite. Fürsorglich kümmerte er sich sogar um ihre Mutter, die im Fieberwahn öfter den Stadtpalast verließ und in den Gassen der kleinen Stadt Folingo umherirrte. Er brachte sie jedes Mal zurück.
Genau wie seinen wirren Herrn, der regelmäßig im Pferdestall vergebens nach seinen Geliebten suchte und dabei im Heu einschlief. Ob Betreuer, Verwalter, Freund und Vertrauter, Veit war aus Cecilias Leben nicht mehr wegzudenken.
Gemeinsam schritten sie zum Planwagen, der neben der kleinen Friedhofskapelle wartete. Die beiden Pferde schnaubten, der muskulöse Knappe half Cecilia hinein, setzte sich anschließend auf den Bock und nahm die Zügel.
Cecilia nahm auf der Ladefläche zwischen aufgetürmten Kissen Platz, sorgenvoll betrachtete sie ihren Mann, der abgemagert und aschfahl im Gesicht, schnarchend auf einer Wolldecke lag.
Ihre Finger glitten fahrig hinauf zum Ansatz ihres schwarzen Trauerkleides, sie öffnete die oberen Knöpfe, um sich Luft zu verschaffen. Nun, da ihre Mutter gestorben und ihr Gemahl nur ein Schatten seiner selbst war und sicher bald das Zeitliche segnen würde, befiel sie Angst vor ihrer Zukunft.
Im Falle seines Ablebens würde sie jeglichen Schutz verlieren, denn die wenigen Getreuen, die Rainald geblieben waren, würden sich nach einem neuen Herrn umsehen. Ihr Gemahl hatte einen jüngeren Bruder, Heinrich, den sie erst einmal gesehen hatte, jedoch in Diensten des sizilianischen Königs Friedrich stand und keinerlei Neigung an der Wiedergewinnung des Herzogtums zeigte. Ansonsten war sie allein und mittellos.
Ihre einzige Hoffnung bestand in der kunstvoll geschnitzten Ebenholzkiste, die ihre Mutter ihr für den Notfall hinterlassen hatte.
Etliche Ledersäckchen voller Silberstücke, ein Fetzen ihrer grünen Kleidung und drei Pfeilspitzen bewahrte sie dort zur Erinnerung ans Heilige Land auf. Das Silber würde einige Zeit reichen, um ihr ein standesgemäßes Auskommen zu ermöglichen. Was danach werden würde, wusste Gott allein.
Mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung. Rainald wachte auf und sah sie mit trübem Blick an.
»Ah, wir fahren. Geht es deiner grässlichen Mutter wieder besser?«, fragte er leise, den Kopf hin und her wackelnd.
»Viel besser. Sie ist jetzt an einem ruhigen Ort«, antwortete sie.
»Dann will ich auch dorthin. Weck mich, wenn wir da sind.«
Er schloss die Augen erneut und Cecilia überkam der Wunsch, er würde sie trotz all ihrer Befürchtungen nie wieder öffnen.
Der höchste Mann der Christenheit lachte nie, obwohl er dem Allmächtigen und sich selbst viel Freude bereitete. Kardinal Cencio war schon alt, als er in die Dienste des amtierenden Heiligen Vaters trat. Seine wasserblauen Augen hatten zwei Päpste kommen und gehen sehen, keiner von ihnen war wie der jetzige. Wenn er doch nur ein wenig Humor sein Eigen genannt hätte, das fehlte hier, in diesem trostlosen Lateranpalast, hoch über den Dächern Roms.
Gelassen beobachtete der Kardinal, wie Papst Innozenz hektisch im Saal auf und ab schritt. Sein Herr hatte die vornehme Blässe verloren, die ihm sonst zu Eigen war. Hochrot im Gesicht fuchtelte er mit einem Schreiben in seiner Hand herum.
Mit nur siebenunddreißig Jahren hatte Innozenz das Pontifikat erreicht, damals viel zu jung für das Amt. Er hatte seine hochfliegenden Pläne, das Territorium des Kirchenstaates zu erweitern, zielstrebig umgesetzt. Ein Dutzend Jahre später sah er sich in die Mitte zwischen Gott und Mensch gestellt, diesseits Gottes, aber jenseits des Menschen. Er pflegte zu sagen, er sei der wahre Statthalter Christi auf Erden, und manchmal glaubte Kardinal Cencio selbst daran, so rücksichtslos wie er mit den Mächtigen dieser Welt umsprang.
Treu diente Cencio ihm in dieser Zeit, war zu seinem engsten Berater aufgestiegen und erntete bald die Früchte seiner unermüdlichen Arbeit. Als Kardinalkämmerer verwaltete er die Einkünfte und Besitztümer des Heiligen Stuhls. In dieser Eigenschaft kam ihm eine besondere Rolle bei der Ausweitung der päpstlichen Besitzungen zu, der sich Innozenz mit Hingabe widmete.
Indes war der Heilige Vater übel gelaunt, was an den bedenklichen Nachrichten lag, die ein Bote aus dem Herzogtum Spoleto überbracht hatte. Unverzüglich hatte er Kardinal Cencio zu sich gerufen, um ihn über die dortigen Vorkommnisse zu unterrichten.
»Der Teufel hat wieder seine Krallen ausgefahren! Wir hätten Otto, den hinterlistigen Sachsen, wahrlich nicht zum Kaiser machen dürfen! Jetzt beansprucht er auch noch Spoleto, nachdem er mit Heeresmacht bereits Neapel berannt hat. Das ist ungeheuerlich!«
Cencio drückte seinen schmerzenden Rücken durch. Sein Alter machte ihm zu schaffen, die Gelenke knackten, sein rechtes Bein war halb steif, und er fragte sich, ob das auf die vielen Reisen zurückzuführen sei, die er im Laufe der Jahre unternommen hatte. In früheren Zeiten war er oft zu Pferd unterwegs, doch längst hatte er den Sattel gegen eine bequeme Bank in einer Sänfte mit vier Rädern getauscht. Diese hatte er eigens für sich anfertigen lassen, sie rumpelte dennoch über die maroden Straßen des Imperiums und war somit seiner verdrehten Wirbelsäule ein ständiges Ärgernis. Er befürchtete, sie bald leider wieder benutzen zu müssen.
Innozenz war außer sich vor Wut und Enttäuschung. Cencio verstand das zu gut. Otto von Braunschweig hatte nach seiner Erhebung zum Kaiser keines seiner Versprechen eingehalten, insbesondere jenes, welches die Unverletzlichkeit der Gebiete des Kirchenstaates anbelangte. Er zog brandschatzend Richtung Sizilien, um den jungen König Friedrich vom Thron zu stoßen, der einzig legitime Nachfolger des alten Kaisers Barbarossa.
»Ihr begebt Euch schnellstens auf den Weg nach Foligno zu Rainald von Urslingen. Sagt ihm Unsere Unterstützung zu, wenn er seine Herzogswürde zurück möchte, die Wir ihm vorenthalten haben. Dafür verlangen Wir, dass er diesen Diepold von Schweinspeunt, den Otto zum Herzog ernannt hat, unschädlich macht. Nehmt genügend Silber für die Anwerbung von Söldnern mit.«
»Verzeiht, Eure Heiligkeit, Ihr wollt den jungen Rainald zum Herzog machen?« Die Aussicht, den Lateran wieder einmal zu verlassen, bereitete Cencio Unbehagen. Ein Stechen im Kreuz durchzuckte ihn, als würde er bereits in der Sänfte sitzen.
»Wir versprechen es ihm. Ob Wir das Versprechen halten können, liegt in Gottes Hand, nicht wahr? Wie Ihr wisst, ist Diepold eine Kreatur Kaiser Ottos, der Uns so schändlich hintergangen hat und Unsere Gebiete verheert. Obwohl er Uns den Frieden und die Anerkennung all Unseres Landbesitzes zugesagt hat. Stattdessen setzt er ihn als Herzog in Umbrien ein, welches rechtmäßig Uns gehört.«
»Ein übler Verrat, fürwahr. Doch ich befürchte, sollte Rainald Herzog werden, bekommen wir üblen Ärger mit Otto. Dieser Titel kann und darf nur vom rechtmäßigen Herrscher des Heiligen Römischen Reiches verliehen werden.«
»Eben. Wir haben vor, den jungen Friedrich als König über Sizilien anzuerkennen und gleichzeitig seine Wahl zum König jenseits der Alpen voranzutreiben. Wir werden Kaiser Otto exkommunizieren, und Ihr werdet sehen, wie schnell seine Getreuen von ihm abfallen. Wenn Friedrich mitspielt, und das wird er, sind Ottos Tage auf dem Thron gezählt. Bis dahin jedoch muss das Herzogtum wieder Uns gehören.«
»Das wird nicht leicht. Ich hörte, Rainald sei krank, er könne kaum sein Bett verlassen.«
Innozenz winkte ab. »So nehmt einen meiner Ärzte mit und päppelt ihn wieder auf. Sonst müssen wir einen anderen Weg finden den Schweinspeunter loszuwerden. Ich denke da an Eure Kreatur, den Mann mit den hundert Verkleidungen. Wo steckt der Kerl überhaupt?«
Cencio räusperte sich. Zuletzt beauftragte er die Klinge des Glaubens, wie er ihn insgeheim nannte, einen Mörder aufzuspüren, der vor etlichen Jahren vermutlich einen ihrer Marschälle, Raoul de Garlande, getötet hatte. Die Leiche war im Heiligen Land gefunden worden, woraufhin die wohlhabende Familie des Marschalls eine hohe Belohnung zur Auffindung des Verbrechers aussetzte.
Cencio erinnerte sich an die Hochzeit Rainalds mit der bezaubernden Cecilia. Dort hatte er Gabriel zum ersten Mal gesehen und nach seinem Auftritt als begnadeter Messerwerfer sofort in seine Dienste genommen. Er ließ den jungen Burschen zwei Jahre lang zum geheimen Vollstrecker ausbilden, der Ketzer und Verbrecher zuverlässig aus dem Weg räumte, die sich nicht dem Willen des Papstes und der Kirche gebeugt hatten.
»Er jagt den Mörder von Raoul de Garlande, wie Eure Heiligkeit sicher noch weiß. Der Templermarschall, dessen Leichnam im Heiligen Land aufgefunden wurde. Wahrscheinlich wurde er von einem Abtrünnigen des Ordens vor gut zehn Jahren erschlagen, wie er mir berichtete.«
»Die Garlandes …« Innozenz nickte. »Das einflussreiche Geschlecht am Hofe des Frankenkönigs Philipp. Wir haben ihnen zugesagt, den Mörder zu finden. Im Gegenzug wollten sie sich Unseren Anforderungen im Reich des Königs verschreiben. Haben sie bisher mehr schlecht als recht getan. König Philipp zögert immer noch, gegen die Katharer im Süden vorzugehen.«
Er legte seine hohe Stirn in Falten. »Vermutlich ein abtrünniger Templer, sagt Ihr, Kardinal?«
»Zumindest deutet vieles darauf hin. Der Mord ist fast zehn Jahre her. Es gestaltet sich schwierig nach so langer Zeit die richtigen Spuren zu finden.«
»Nun, dessen Gebeine sind wahrscheinlich längst verrottet. Präsentiert den Garlandes irgendeinen Leichnam, gebt ihn als den Gesuchten aus, erfindet von Uns aus eine passende Geschichte dazu, und holt Uns diesen … Wie hieß er doch gleich noch mal …«
»Gabriel ist sein Name, Euer Heiligkeit«, half Cencio dem Gedächtnis des Papstes auf die Sprünge.
»Wir wissen, wie er sich nennt«, gab der Papst bissig zurück. »Schafft ihn herbei. Seine Dienste werden hier dringender gebraucht als bei der völlig sinnlosen Verfolgung eines längst vergessenen alten Templers.«
Es war für Cencio überraschend, doch nachvollziehbar, dass der Heilige Vater jetzt andere Pläne mit Gabriel verfolgte. Falls Rainald seiner Krankheit erliegen würde, gäbe es keinen Besseren als ihn, die leidige Angelegenheit um das Herzogtum Spoleto mit seinen Dolchen zu bereinigen. Der Schweinspeunter war so gut wie tot, wenn Gabriel auf ihn angesetzt würde.
»Wie Eure Heiligkeit wünschen. Ich werde es sofort veranlassen.« Kardinal Cencio deutete eine Verbeugung an, mehr ließ seine verdrehte Wirbelsäule nicht zu.
»Gut. Wir begeben Uns jetzt in Unsere Kanzlei, um den Bannstrahl gegen den falschen Kaiser abzufassen und werden gleichzeitig Boten an seine Widersacher im Reich senden, um sie zum Widerstand anzustacheln und Friedrich als ihren König zu wählen. Ihr brecht morgen zu Rainald auf. Nehmt zwei Dutzend Männer der Palastwache zu Eurem Schutz mit. Der Herr sei mit Euch, mein guter Kardinal.«
Mit weiten Schritten eilte Papst Innozenz aus dem Saal und ließ einen einigermaßen ratlosen Cencio zurück. Es war ihm nicht im Geringsten klar, wie er die Befehle des Heiligen Vaters umsetzen sollte. Den Garlandes eine Leiche als Mörder ihres Verwandten zu präsentieren, wäre mit Gabriels Hilfe durchaus möglich, doch ihn selbst in den Weiten des Reiches zu finden und zurückzuholen, würde weitaus schwieriger werden.
Denn er hatte lange nichts von Gabriel gehört. Die letzte schriftliche Nachricht hatte er vor etwa acht Monaten mit einem Päckchen aus Genua erhalten, welches einen Lederbeutel mit Bruchstücken braunen Rohrzuckers aus dem Heiligen Land enthielt. Gabriel hatte sich gemerkt, dass Kardinal Cencio der süßen Köstlichkeit verfallen war, die hierzulande einzig durch die störrischen Venezianer zu unverschämt überhöhten Preisen angeboten wurde. Teurer als Gold, war es eine der wenigen weltlichen Versuchungen, die Cencio sich zuweilen gönnte und mit Genuss im Munde zergehen ließ.
Gabriel schrieb nur, er wäre im Heiligen Land gewesen und verfolge jetzt die Spur eines flüchtigen Templers nach Sachsen, der sich Guillaume de Born nenne. Dort wolle er zwei Ritter mit Namen Walter von Westereck und Hartung von Scharfenberg finden, die vermutlich mit dem Mord an Marschall Raoul zu tun hätten. Sie allein könnten ihm weitere Auskünfte bezüglich des Abtrünnigen geben.
Über die Maßen verwundert hatte damals Cencio diese Information zur Kenntnis genommen, denn ein paar Wochen zuvor war eben diesen beiden Rittern eine Audienz beim Heiligen Vater gewährt worden, um Angelegenheiten des Ordens der Schwertbrüder von Livland zu besprechen. Er hatte keine Möglichkeit gesehen, Gabriel darüber eine Nachricht zukommen zu lassen, vertraute aber auf dessen untrüglichen Spürsinn, die nach dem Gespräch heimkehrenden Ritter später in Sachsen aufzufinden.
Nun hatte sich die Lage verändert. Er war gezwungen, jemanden zu Gabriel schicken, wo auch immer dieser sich aufhielt, um ihn auf dem schnellsten Weg zurück nach Rom zu holen.
Cencio trat ans offene Fenster und schaute grübelnd in den grauen Nachmittagshimmel. Er hatte noch einen Mann in seinen Diensten, den er vor Gabriel angeworben hatte. Kein begnadeter Attentäter wie dieser, doch ein zuverlässiger, wenn auch teurer Söldner, der überragend mit seinem Schwert umzugehen vermochte.
Zwei Mal hatte dieser Mann Gabriel bereits begleitet. Einmal, um drei Kleriker in Verona zu töten, die sich den gottlosen Katharern zugewandt hatten. Ein weiteres Mal unterstützte er ihn bei einem Mord an einem Bischof in Sizilien, der in Unzucht mit vier Weibern lebte, Zahlungen an den Heiligen Stuhl veruntreute und durch Folterungen Geld von Mitgliedern seiner Gemeinde erpresste.
Leider kam es dabei zu Zerwürfnissen zwischen Gabriel und dem Schwertkämpfer. Grund dafür war ein Streit um die Bezahlung der Morde, die Gabriel zu zwei Dritteln für sich allein beanspruchte, da der Söldner angeblich nur zu seiner Rückendeckung mit ihm unterwegs war. Cencio schlichtete den Streit, indem er das Blutgeld hälftig den beiden zusprach, doch seitdem verweigerte Gabriel jede weitere Zusammenarbeit mit dem Söldner.
Dennoch, niemand wusste über seine Vorgehensweise besser Bescheid als dieser Mann. Außerdem kannte er sich jenseits der Alpen aus, denn er hatte bereits einmal dort einen höchst brisanten Auftrag erledigt. Ihn würde er für die Aufgabe wählen, Gabriel aufzufinden, auch wenn es den Heiligen Stuhl sicher eine Menge Silber kosten würde.
Zufrieden mit diesem Entschluss kramte der Kardinal ein kleines Stück Zucker unter seiner Kukulle hervor und steckte es sich in den Mund. Langsam darauf kauend nahm er seinen Stock, der an der Wand lehnte, und humpelte hinaus, um die Vorbereitungen für die Reise zu Rainald von Urslingen zu treffen.Neuer Text