KAPITEL 0.1
Obwohl sämtliche Knochen in seinem Leib scheinbar von einem wilden Auerochsen zertrampelt worden war gab er nicht auf. Stöhnend versuchte er sich aufzurichten. Schwarzer, stinkender Schlamm quoll durch die Finger seiner zerkratzten Hände. Der mühevolle Versuch sich zu erheben wurde durch den johlenden Beifall eines halben Dutzend Klosterschüler lautstark bejubelt. Ihr Held war am Rande des Abgrunds einer Niederlage, weigerte sich aber hinabzustürzen.
Walter kam auf die Knie und reckte stolz den Kopf nach oben. Trotzig und voller Verachtung spie er Blut in Richtung seines übermächtigen Gegners, der spöttisch lächelnd ausholte und erneut hart mit seiner Faust zuschlug.
Er traf ihn seitlich unter dem Kinn. Walters Kiefer krachten aufeinander. Ächzend fiel er zurück in die lauwarme Pfütze, die ein heftiger Gewitterregen am Morgen auf dem umzäunten Platz hinter dem Schafstall hinterlassen hatte, der sich knapp zweihundert Schritte nördlich außerhalb der Klostermauern inmitten einer sanften, sattgrünen Weide befand.
»Da gehörst du hin! In den Dreck!«
Wilfried von Lauenau sprang nach vorn, trat auf Walters rechte Hand, drehte seinen Fuß und verlagerte sein gesamtes Gewicht auf diese Stelle. Das grässliche Knacken hörten selbst die in sicherer Entfernung am Zaun lehnenden Schüler.
Walter fühlte nicht, wie sein Daumen aus dem Gelenk sprang, der Schmerz war übermächtig und raubte ihm sogar die Kraft zu schreien. Wild bäumte sich sein Körper auf, seine linke Faust schnellte nach oben unter den Kittel seines Gegners und traf wuchtig Wilfrieds Gemächt.
Wilfried taumelte nach hinten, sein Gesicht verzerrte sich zu einer überraschten, ungläubigen Grimmasse. Seinen Unterleib mit beiden Händen haltend fiel er stumm neben Walter in den Schlamm und erbrach sich und dicken Schüben.
Stille legte sich für einen Moment über den Ort des Kampfes. Sprachlos starrten die Schüler auf die beiden Körper, die sich in dem nassen Pfuhl vor Schmerzen wälzten, bis der kleine Alfred das Schweigen brach.
»Worum ging es denn diesmal?«, fragte er leise, denn er hatte nur den letzten Teil des Kampfes gesehen, weil er im Schafstall Ziegen melken musste. Durch die Anfeuerungsrufe der anderen neugierig geworden war er hastig zu ihnen hinaus gelaufen.
»Wilfried wollte, dass Walter für ihn das störrische Schaf dort drüben schert«, antwortete der schlacksige Burchard, ohne den Blick von den beiden Körpern zu nehmen, die sich jetzt kaum noch bewegten.
»Und, was hat er gesagt?«
»Er würde lieber seine Schwester zurechtstutzen, die hätte weitaus mehr Haare zwischen den Beinen.«
Alfred grinste. Wilfried erzählte sehr oft von seiner jüngeren Stiefschwester Jolande. Seit er hier vor zwei Sommern angekommen war, verging fast kein Tag, an dem er nicht mit ihr prahlte. Sie wäre so schön und klug, so fein gewachsen und voller Anmut. Und er gab vor allen damit an, dass er sie schon ohne Kleider gesehen hätte, richtig nackt und wenn sie nicht seine Anverwandte wäre, so hätte er sie schon geschwängert.
Anfangs hörten sie ihm noch aufmerksam zu, schließlich waren alle neugierig. Keiner von ihnen hatte jemals eine entblößte Frau zu Gesicht bekommen, geschweige denn berührt.
Doch mit der Zeit waren die alten Geschichten abgenutzt. Walter meinte zuweilen, durch ständige Wiederholungen würden Lügen auch nicht wahrer werden.
»Warum kann er nicht seinen Mund halten. Wilfried ist fünf Jahre älter, stärker und von höherer Geburt. Noch dazu war er schon Knappe eines Ritters «, meinte Alfred und kratzte sich die schief zusammengewachsene Nase.
Ein Andenken an seine erste Begegnung mit Wilfried, weil er sich bei seiner Ankunft im Kloster nicht vor ihm verbeugt hatte. Seitdem ging er immer leicht gebückt, sobald er ihm begegnete.
»Weil es Walter egal ist ob Wilfried ein Grafensohn und er nur der Zweitgeborener eines einfachen Ritters ist. Er hat eben Stolz im Leib und außerdem ist er verrückt. Weiß doch jeder hier«, krähte ein gedungener, pickliger Jüngling, den alle deshalb Warzenkröte nannten.
»Trotzdem. Ein hoher Adliger sollte keine Schafe scheren«, sagte Alfred leise.
»Wir sind alle adliger Abstammung. Bruder Heinrich hat es angeordnet und wir müssen den Anweisungen des Dekans folgen, solange wir hier sind. So sind die Regeln«, entgegnete Burchard.
Eine donnernde Stimme hinter ihnen ließ die versammelten Schüler zusammenfahren. »Da lässt man euch einen Augenblick allein und ihr Faulenzer gebt euch dem Müßiggang hin! Was ist hier los?«
Bruder Heinrich drängte seine enorme Leibesfülle durch die aufgeschreckte Meute nach vorn und verteilte dabei mit beiden Händen etliche Klapse auf die Hinterköpfe der Jungen. Seine grauen Augen funkelten zornig unter der gerunzelten Stirn. Hochrot im Gesicht entdeckte er die beiden leblos scheinenden Körper in der Schlammlache.
»Um Himmels Willen, was habt ihr jetzt wieder angestellt!«, rief er außer sich vor Entsetzen und eilte hinüber.
Wilfried lag auf der rechten Seite und wimmerte leise. Tränenbäche durchzogen sein schlammbedecktes Gesicht. Walter lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, seine untere Lippe war aufgeplatzt und Blut sickerte aus beiden Mundwinkeln.
Sofort kniete sich Bruder Heinrich neben ihn und horchte an seiner Brust. Walter atmete flach und war bewusstlos. Beruhigt rutschte er hinüber zu Wilfried, der seine Hände abwehrte und erneut Reste seines Mageninhalts herauswürgte.
Über die Schulter rief der Dekan laut zu den Schülern: »Es ist Ernst, schnell, holt Hilfe! Lauft zum Infirmarius ins Hospital! Er soll Knechte mitbringen und zwei Tragen! Los, los, los!«
Die Jungen erwachten aus ihrer gespannten Erstarrung und spritzen auseinander. Wild durcheinander schreiend rannten sie den kleinen Hügel zum Kloster hinauf.
Bruder Heinrich sackte nach hinten, setzte sich ungeachtet der schmierigen Nässe neben Walter und betrachtete ihn sorgenvoll.
Der Ärger mit dem Jungen nahm kein Ende. Bereits seit elf Sommern war er hier Dekan, führte ein gottgefälliges, frommes Leben am Fuße der Deister Berge und hatte schon einige Klosterschüler kommen und gehen sehen.
Auf seinen Vorschlag hin hatten sich die Brüder des Klosters Wennigsen vor einigen Jahren und nach vielen Überlegungen dazu entschlossen, gegen gutes Entgelt adlige Söhne im Kloster in Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Rhetorik zu unterrichten. Zumeist die Zweitgeborenen, die nicht erbberechtigt waren, erhielten hier das nötige Rüstzeug für eine geistliche Laufbahn. Dafür war eigens eine kleine Schule eingerichtet worden, in der derzeit acht Sprösslinge Wissen und Bildung erfuhren.
Doch Walter, der jüngste Sohn des Ritters Hugo von Westereck, schien vom Allerhöchsten gesandt worden zu sein, um die Duldsamkeit und Milde der Brüder ständig neuen Prüfungen zu unterziehen. Ein Bienenkorb im Speisesaal der Mönche, angesägte Latrinenbretter, getarnte Fallgruben im Klostergarten, Diebstahl von Lebensmitteln aus der Küche und unzählige Raufereien unter den Schülern gingen auf sein Kerbholz.
Er verschonte niemanden mit seinen Streichen, egal welchen Rang er in der Bruderschaft bekleidete. Einzig Bruder Theobald, der greise Lehrer für Latein und Griechisch und sein Beichtvater, hatte ein gutes Verhältnis zu ihm. Er war bisher unbehelligt geblieben.
»Bruder Heinrich, die Helfer sind da!«
Der lange Burchard rüttelte an der Schulter des Dekans und holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Heinrich stemmte mit schmatzendem Geräuschen seinen schweren Körper aus er Schlammkuhle nach oben und begrüßte mit einem Kopfnicken den Krankenpfleger des Hospitals, Bruder Gottfried und vier Knechte, die abwartend hinter ihm mit den Tragen standen. Der Infirmarius untersuchte die beiden Verwundeten sofort, ließ sie anschließend auf die Tragen betten und ins Lazarett bringen.
»Die werden schon wieder. Wilfried wird noch einige Tage einen ziemlich geschwollenen Hodensack haben und Walters rechter Daumen ist ausgekugelt. Einige Prellungen und Abschürfungen, aber nichts gebrochen. Er wird hoffentlich bald wieder zu Bewusstsein kommen, seine Verletzungen sind nicht gefährlich aber äußerst schmerzhaft.«, sagte Gottfried beruhigend und wischte seine schmutzigen Finger mit einem kleinen Leinentuch ab.
»Dem Herrn sei Dank. Aber bring die beiden getrennt voneinander unter. Ich will keinen weiteren Ärger.«, mahnte Heinrich. Gottfried nickte und folgte dem Krankentransport.
Heinrich wandte sich an die betroffen dreinblickenden Schüler, die aufmerksam die Untersuchung verfolgt hatten.
»Ihr habt genug gesehen und den Infirmarius gehört. Zurück mit euch zu den Schafen! Die verlieren ihr Fell nicht von allein. Du nicht, Burchard! Du berichtest mir, was hier vorgefallen ist.«
Die Zöglinge folgten widerspruchslos seinem Befehl und Burchard erzählte ihm stockend den Hergang der Prügelei.
Danach schickte Dekan Heinrich den Jungen zu seinen Kameraden und gestand sich ein, dass er allein das Problem nicht lösen konnte.
Natürlich musste Walter bestraft werden, aber aufgrund seiner Herkunft und den Zuwendungen seines Vaters war eine gewisse Milde mit dem Zögling angeraten. Gleiches galt für Wilfried, dessen Vater der Vogt des Klosters war und für die Sicherheit der Zisterzienserabtei sorgte.
Wenn ich mich doch nur mit unserem Abt besprechen könnte.
Leider weilte Bruder Georg in der fernen Stadt Minden und besprach mit dem dort ansässigen Bischof einige Dinge zum Wohle der Mönche. Heinrich musste vorerst allein die schwere Bürde der Verantwortung für den Frieden im Kloster tragen.
Vielleicht könnte mir Bruder Theobald helfen. Die Ratschläge des greisen Bücherwurms, der viel in der Welt herumgekommen war, wurden gern vom Abt berücksichtigt. Mit ihm sollte man sich zusammensetzen und dann die Strafe wählen.
Erleichtert über seinen Entschluss richtete sich Dekan Heinrich zu voller Größe auf und blickte hinüber zum Kloster, dessen strohgedeckte Dächer nach dem Gewitterregen in der Mittagssonne leicht dampften. Die fast dreißig Fuß hohe steinerne Kirche aus grauen Feldsteinen überragte eine Ansammlung von weiß getünchten, aus gebrannten Ziegeln gemauerten Gebäuden, die sich um sie herum gruppierten. Der mannshohen Mauerring, der die Anlage umschließen sollte, war noch nicht ganz fertig. Nach Süden hin, wo die Deister Berge sich sanft aus der Ebene erhoben, klaffte eine vierzig Schritt breite Lücke. Die nächste Steinlieferung würde bald eintreffen.
Heinrich hörte die Schafe im Stall blöken, die sich gegen ihre Schur wehrten, roch den süßen Duft der ersten Frühlingsblüten in der klaren Luft und seufzte.
Der Herr meint es gut mit uns an diesem Ort. Möge es lange so bleiben, dachte er, klopfte den größten Teil des angetrocknetes Schlamms von seinem Gewand und schritt gemächlich hinauf zum Kloster, um den alten Theobald in seiner Zelle aufzusuchen ...
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