TOM MELLEY
DIE KLINGE DES GLAUBENS
LESEPROBE
I
Der Papst bezeichnete die Katharer als Menschenfänger, und er fragte sich, ob dieser Begriff auch auf ihn zutraf, während er ein scharfes Küchenmesser in der Hand wog und es nachdenklich betrachtete.
Nein, gefangen habe ich noch niemanden.
Eine winzige Gravur auf der Klinge, zwei Halbmonde unter einem Kreuz, verriet ihm die Herkunft. Hervorragender Stahl aus Toledo, viel zu schade für das Schneiden von Kohl und Rüben, aber ein untrügliches Zeichen für den Wohlstand des Hausbesitzers. Mit Messern kannte er sich aus, ein kleines Vermögen hatten sie ihm eingebracht.
Er legte es auf das Regal neben dem Herd zurück, auf dem in einem Kessel ein Eintopf aus Fisch und Gemüse blubberte. Der würzige Duft stieg ihm verführerisch in die Nase. Leise summte er eine Melodie vor sich hin, nahm einen Holzlöffel vom blankgeschrubbten Küchentisch und probierte vorsichtig. Die Fischbrocken waren gar, weich wie dicke Sahne zerschmolzen sie auf seiner Zunge. Köstlich schmeckte diese Suppe, nach Zwiebeln, Knoblauch, Rettich und scharf wegen der kostbaren Pfefferkörner, die sich wie winzige schwarze Perlen in ihr verteilten.
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Eine Zauberin beim Kochen und eine Göttin zwischen den Laken war die Frau, die oben im ersten Stock des geräumigen Hauses in ihrem Bett lag.
Bevor er sie kennenlernte, hatte er viele Frauen glücklich oder unglücklich gemacht, das kam auf die Betrachtungsweise an, wie er sich eingestand.
Einige hassten ihn wahrscheinlich immer noch. Schlanke und beleibte, junge und ältere, kleinere und wahre Riesinnen von Gestalt. Manche waren verheiratet, andere noch Jungfrauen gewesen, nur wenige zierten sich länger als drei Tage, bevor sie seinen Liebenswürdigkeiten erlagen.
Die meisten lernte er in seinen Wanderjahren als Spielmann und Gaukler kennen. Sie mochten seinen sehnigen Körper, sein dunkles lockiges Haar, die tiefe, samtene Stimme und seine braunen, zuweilen traurig blickenden Augen, die voller Geheimnisse zu sein schienen, die er selbst noch nicht ergründet hatte.
Doch an dieses hinreißende Wesen dort oben kam bisher keine heran. Kratzbürstig und zärtlich, leidenschaftlich und neugierig, manchmal ein wenig zu ängstlich. Anfangs wehrte sie sich beim Liebesspiel, kniff und kratzte ihn, aber die unbegründete Furcht vor seiner Männlichkeit hatte er ihr sanft genommen.
Eine solche Frau hatte er sich immer gewünscht, fast so sehr wie dieses wundervolle Haus inmitten der Stadt Carcassonne, nur einen Steinwurf von der Kirche Saint Nazaire entfernt. Gebaut aus grauen Kalkblöcken, mit massiven Holztreppen, die in die oberen Geschosse führten. Der Blickfang im Wohnzimmer war ein kühlender Mosaikboden aus gebrannten Tonstücken, der von maurischen Handwerkern verlegt worden war und ein Panorama flacher Berge mit Palmen vor einem azurblauen Meer abbildete. Es erinnerte ihn an das Land, in dem er aufgewachsen war. Vor langer Zeit musste er es verlassen.
Drei Stockwerke ragte das Gebäude in die Höhe, fast fünfzig Fuß hoch. Im obersten Geschoss lagerten Tuchballen aus Gent und Lyon.
Goldene und silberne Garnrollen aus Cordoba, gegerbte Häute von Rindern, Schweinen und Wildtieren, Kisten mit hunderten Schnallen, Broschen aus Silberblech und Knöpfe aus Horn und Holz.
Im ersten Stock befanden sich die Tuchwerkstatt mit zwei Webstühlen und das Schlafgemach des Paares. Im Untergeschoss verkauften sie zuweilen ihre Waren, an langen Stangen hingen Kleider, Mäntel, Kopfbedeckungen, Leibchen, Mieder und Röcke. Das Wohnzimmer grenzte an eine Küche mit gemauertem Ofen, dessen rußgeschwärzte Steine sich zu einem Abzug auftürmten, an dem eiserne Küchengeräte an Nägeln hingen.
Früher hatte hier ein Ratsherr über etliche Jahre hinweg mit seiner Familie gewohnt, der durch seinen Gewürzhandel mit den Mauren reich geworden war. Doch die Ungläubigen wurden in vielen Schlachten durch christliche Heere in den Süden Spaniens abgedrängt. König Alfons von Kastilien verbot den Handel mit ihnen und dem plötzlich verarmten Kaufmann blieb nichts anderes übrig, als sein Haus weit unter Wert zu verkaufen. Er war nach Marseille gezogen, wie man sich erzählte.
Mit der Schneiderei dagegen verdiente man derzeit gutes Geld. Seit die adligen Wallfahrer hier in Scharen eingetroffen waren, um gegen die Mauren für das Kreuz zu kämpfen, stieg der Bedarf an Gewändern, Mänteln, Pferdeschabracken, Zelten und Bannern ins Unermessliche. Krieg war nicht nur für Waffenschmiede ein lohnendes Geschäft. Drei Mägde mussten eingestellt werden, die dem Paar zur Hand gingen, um die Aufträge zu bewältigen.
Er nahm den Eisentopf vom Haken, stellte ihn auf den Boden und schürte das glühende Holz des Kochfeuers auseinander. Möglicherweise würde er später noch etwas essen und sich danach bei der glutäugigen Köchin für diese ausgezeichnete Mahlzeit mit einem Kuss bedanken.
Langsam öffnete er die Tür zur an die Küche angrenzenden Speisekammer. Ein Geruch nach Fisch, Knoblauch und Zwiebeln schlug ihm entgegen und raubte ihm fast den Atem. Geräucherte Meerforellen hingen an Stricken von der Decke, Säcke mit Getreide stapelten sich in den Ecken, zwei Körbe voll schwarzer Oliven und Feigen standen neben drei hüfthohen Weinfässern auf dem Boden. Daneben drängten sich Tonkrüge mit Olivenöl in verschiedenen Größen.
In einem Regal rechts hinter dem Eingang fand er einen Krug, füllte sich aus einem Fass Wein ab, schlurfte zurück durch die Küche in den Wohnraum und nahm sich einen Zinnbecher aus einer eisenbeschlagenen Holztruhe.
Geräuschvoll goss er das dunkelrote Getränk aus einer Elle Abstand ein, hielt sich anschließend den Becher mit geschlossenen Augen unter die Nase und nahm eine Probe. Bevor er schluckte, kaute er die Flüssigkeit und zog sie durch die Zahnlücken. Der aromatische Wein kam aus Burgund, da war er sich sicher. Bei Wein und Frauen machte ihm niemand etwas vor.
Schwungvoll setzte er sich in den bequemen Stuhl in der Nähe des Hauseingangs, hing seine Beine über die rechte Lehne und schaukelte zufrieden mit den Füßen.
Er bedauerte, dass er die Fensterläden nicht öffnen konnte. Draußen war es warm und sonnig, doch das Haus stand an einer belebten Gasse, die vom Südtor direkt zum Marktplatz führte. Heute war Markttag, Bauern und Händler strömten seit den frühen Morgenstunden in die Stadt, um ihre Verkaufsbuden aufzubauen und die vielfältigsten Waren auf langen Brettern neben ihren Wagen und Karren aufzuschichten. Neugierige Blicke in das Erdgeschoss wollte er vermeiden und so hatte er die Fensterläden kurz nach seinem Eintreffen vorsorglich geschlossen.
Durch einen Spalt drängten Sonnenstrahlen, kleine Staubkörner tanzten im Licht, die von den frischen Binsen auf dem Boden aufstiegen.
Er hörte ein Klappern am Eingang, jemand versuchte das Türschloss zu öffnen. Seine Muskeln spannten sich an, er erhob sich rasch und zog zwei scharfe Dolche unter seinem Gewand hervor.
Die schwere Tür knarrte in den Angeln, ein hagerer, barhäuptiger Mann mit schütterem grauem Haar trat ein. Er trug eine weite, schwarzbraune Kutte, die um seine knochigen Hüften mit einem Hanfstrick zusammengezogen war. Geräuschvoll hüstelnd schloss er den Eingang hinter sich und blinzelte in den Raum. Sofort fiel sein Blick auf die beiden Messer, die plötzlich im Sonnenlicht aufblitzten und auf sein Gesicht gerichtet waren.
Seine Augen rundeten sich erschrocken, heiser krächzte es aus ihm heraus: »Gütiger Gott, wer seid Ihr? Und was habt Ihr in meinem Haus zu suchen?
II
Er hatte ihn oft gesehen, diesen Ausdruck ungläubigen Staunens und Entsetzens auf den Gesichtern seiner Opfer, wenn er unvermutet vor ihnen stand, die gezückten Dolche nah an ihren Augen. Auch dieser Mann machte da keine Ausnahme.
»Setz dich, Bischof.«
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch, mit einem Kopfnicken wies er auf den Hocker, der mitten im Raum stand.
Der dürre, schlaksige Ketzer fing sich überraschend schnell. Bedächtig nahm er Platz und musterte den Eindringling. Vor ihm ragte ein mittelalter Mann auf, schlank, mit kantigem, bärtigem Gesicht. Lange dunkelbraune Haare, in denen sich erste graue Strähnen zeigten, fielen ihm bis auf die Schultern, die schmalen Lippen verzogen ein abschätziges Lächeln. Er trug eine ärmliche braune Kutte aus grobem Wollstoff, die nicht zu seinen fein gearbeiteten Lederstiefeln passen wollten, welche unter dem ausgefransten Saum seines Gewandes hervorlugten. Das war kein Dieb und er kam ihm seltsam bekannt vor.
»Du bist Bischof Guilhabert de Castres, nicht wahr?«, die hellbraunen Augen des Eindringlings schauten teilnahmslos.
»So nennt man mich«, antwortete er ruhig und sah auf, »und wie ist Euer Name, mein Sohn?«
»Ich bin nicht dein Sohn, perfectus.«
Guilhabert bemerkte leisen Spott in der Antwort, fast so etwas wie Belustigung, doch das Gesicht des Mannes verdunkelte sich.
Nie hatte ihn jemand angesichts seiner Dolche nach seinem Namen gefragt. Sie hatten um ihr Leben gebettelt, gefleht und geweint. Später erstickten ihre Schreie in ihrem Blut.
Viele waren es gewesen, längst war er es leid, sie röcheln zu hören. Die ersten tötete er mit der Überzeugung, im Dienste des Herrn und zum Schutz des wahren Glaubens lobenswerte Werke zu vollbringen. Mittlerweile zerfraßen ihn Zweifel, die ihn nachts ruhelos durch Tavernen und Hurenhäuser trieben, damit er diese Gedanken in Wein und willigen Schößen versenken konnte. Dieser alte Mann vor ihm schien keine Furcht zu verspüren. Er verdiente den Namen seines Henkers zu wissen.
»Ich heiße Gabriel. Aber das wird dir kaum etwas nützen …«
»Nein, nein …«, unterbrach ihn Guilhabert, »das ist nicht Euer Name. Ich erinnere mich an Euch, Ihr seid Ramon de Valencia! Ein Ritter des Grafen Raimund von Toulouse, ich sah Euch an seiner Seite, vor einem Jahr in der Abtei Saint Gilles, als wir alle mit dem Legaten des Papstes, Pierre de Castelnau, verhandelten, um des Grafen Exkommunikation aufzuheben.«
Befriedigt über die Leistung seines Gedächtnisses beugte er sich zurück und strich sich den schütteren Bart. Einen Lidschlag später flackerte endlich Angst in seinen Augen auf.
»Es geht das Gerücht, Ihr hättet den Legaten kurz darauf am Ufer der Rhone mit einem Dolch ermordet und seid dann verschwunden. Bin ich der … Nächste?«
Gabriel schwieg zunächst und neigte seinen Kopf prüfend zur Seite. Kein Dolch, sondern ein gezielter Lanzenstoß, der vor einem Jahr dem Papstgesandten die Brust durchbohrte, erfüllte damals den Auftrag seines römischen Gebieters. Gabriel hatte nicht nach dem Grund gefragt, warum der hochgestellte Geistliche sterben musste. Er fragte nie danach, nur nach der Belohnung für seine erfolgreichen Dienste, die von Mal zu Mal höher wurde.
Seit Januar versammelten sich viele Fürsten der Christenheit mit ihren Kriegern in Marseille, um den Märtyrertod des Legaten an den missliebigen Katharern zu rächen, denen man die Schuld an dem Verbrechen gab. Der Anlass, der den bis dahin zögernden Papst Innozenz zum Aufruf gegen die Ketzer bewegte, war zweifellos sein Werk. Oder das seines Herrn, das konnte man sehen, wie man wollte.
»Sprecht, seid Ihr dieser Mann?«, fragte Guilhabert ruhig.
»Ich bin so wenig ein Ritter, wie du ein Bischof bist«, antwortete Gabriel ausweichend, »du irrst dich. Man nennt dich unter den euren perfectus, doch vollkommen scheint Ihr nicht zu sein. Ich bin hier, um Euch aus der Umgebung des Grafen Raimund zu entfernen, der Euren Irrglauben fördert und damit der wahren Kirche gewaltigen Schaden zufügt. Euer Tod wird den Grafen zur Besinnung bringen.«
»Ich habe mich nie als Bischof betrachtet, nur als Hirte, der den Menschen den Weg zum Heil bringen kann. Mein Leib schert mich nicht, er ist vom Teufel erschaffen, um der Seele den Weg ins Himmelreich zu erschweren. Wenn Ihr mich töten wollt, so fahre ich geradewegs zum Herrn hinauf, denn ich bin ein von Gott Erwählter. Ich kann auch Euch Seelenfrieden verheißen. Ihr solltet meine Worte anhören.«
Vor diesem Satz hatte man ihn gewarnt. Ein predigender Katharer trug das Gift seines Glaubens wie eine honigtriefende Köstlichkeit auf der Zunge. Nicht nur einfache Menschen verfielen ihnen, auch Adlige, selbst katholische Würdenträger waren nicht dagegen gefeit. Gabriel unterdrückte ein Grinsen.
»Verschone mich. Du hältst dich für Christus, was für eine Anmaßung. Eure Lehre leugnet die Wiederauferstehung, angeblich wandern die Seelen der Leute in Tierkörper, wenn sie nicht von Euren gotteslästerlichen Gebeten erlöst werden und leben darin fort. Deshalb verschmäht ihr Fleisch und fresst nur Körner wie die Vögel. Nichts für mich, alter Mann.«
»Wie schön, Ihr kennt Euch mit meinem Glauben recht gut aus. Unsere Nahrung hat jedoch mehr Abwechslung zu bieten. Brot, frisches Gemüse und Obst, gar Fisch gehören dazu, denn dieser entsteht aus reinem Wasser, nicht durch sündige Fortpflanzung. Ich will gern Euer Wissen erweitern, auf dass Ihr erkennt, wie gut wir es meinen. Auch Euch kann ich helfen, ich erkenne gequälte Seelen. Lasst mich Euren Schmerz lindern.«
Guilhabert hob segnend seine Hände und wollte sich erheben, doch unvermittelt durchschnitt einer der Dolche die Luft und schlug neben seinem linken Fuß in ein Bein des Hockers. Erschrocken sah er auf den zitternden Knauf.
»Behalte Platz. Ich bin noch nicht fertig mit dir«, sagte Gabriel gelassen und schenkte sich einen Schluck Wein nach. Guilhabert sackte zurück auf den Stuhl, sein sanftes Lächeln erstarrte.
»Es nützt wenig, mich zu töten. Andere werden kommen und mich ersetzen.«
»Du meinst deine beiden Stellvertreter? Einer von Ihnen, dein Diakon Ernest oder filius major, wie du ihn nennst, hatte heute Nacht einen Unfall. Du kommst geradewegs aus seinem Haus in der Gasse der Färber, richtig? An Markttagen gehst du morgens zu ihm, nachdem du dein Gesinde beim Aufbau eures Verkaufsstandes beaufsichtigt habt. Du besprichst mit ihm die Gottesdienste für das Wochenende, verwaltest die Spendeneinnahmen der Gläubigen und bereitest die Predigten vor, während deine hübsche Haushälterin hier das Mittagsmahl kocht. Nur heute dauerte es etwas länger, ich kann mir vorstellen, wie groß die Bestürzung im Haus des Färbers war. Ein sehr tragisches Unglück, er stolperte auf der steilen Treppe in seinem Haus und brach sich das Genick ...«
»Ihr seid das gewesen!«, Guilhabert sah ihn verblüfft an.
»Unfälle passieren zuweilen. Sein Ersatzmann und filius minor, der Weber Fabrice dagegen hat sich gestern im Stall seines Anwesens erhängt. Ein Jammer, vermutlich ein Anfall geistiger Umnachtung nach langer Fastenzeit.«
»Ihr seid der Teufel, wahrlich!«, der Bischof schüttelte den Kopf, Tränen quollen aus seinen Augen, »was habt Ihr mit der unschuldigen Marielle gemacht, Ungeheuer! Sie war hier im Haus als ich ging!«
»Ach, deine sittsame Wirtschafterin …«, Gabriel seufzte gedankenvoll und rieb sich das Kinn, »sie ist nicht so unschuldig, wie du meinst. Es dauerte weniger als drei Tage sie zu umgarnen, freiwillig ließ sie mich in dein Anwesen und in ihr Bett. Sie ist wohlauf und ruht sich von der Anstrengung aus, so gut wie man das mit Knebel und Fesseln eben vermag.«
»Ihr wisst nicht, was Ihr angerichtet habt. Sie war auf dem Weg, eine gute Frau, eine Vollkommene zu werden und unseren Glauben in die finstere Welt zu tragen, um viele Sünder zu erlösen!«
»Dafür hast du mit Sicherheit die Falsche ausgesucht. Euer Glaube ist Schwindel und Betrug. Ihr ruft zum Ungehorsam auf, denn für euch ist diese Welt vom Bösen erschaffen und Regeln würden nur das Böse verwalten. Ihr predigt Armut und du lebst in einem Haus voller Reichtümer, ihr schwört den vergorenen Getränken als Teufelswerk ab, aber in deinem Keller stapeln sich die Weinfässer. Sündhaftigkeit mit Weibern wäre ein Gräuel, doch dort oben liegt eine Magd, schön wie die Jungfrau Maria und verdorben wie einst Salomè, um es mit den Worten der Heiligen Schrift zu sagen, die ihr so vehement ablehnt. Genug geredet.«
Gabriel erhob sich, sein Dolch kreiste im Handgelenk und er trat auf den kopfschüttelnden Katharer zu, der ihm abwehrend die Hände entgegenstreckte.
»Ihr irrt Euch. Der Wein gehörte dem Vorbesitzer des Hauses, kein Tropfen davon nahm ich zu mir. Niemals habe ich Hand an eine Frau gelegt, niemals die gespendeten Gelder für mich selbst verwendet. Eure Prälaten schwelgen in Reichtum und Macht, erkauft durch Schweiß und Blut der Gläubigen. Wir sind die Freunde Gottes, predigen Armut, Brüderlichkeit und Verzicht auf alles Sündhafte. Die diesseitige Welt ist vom Bösen erschaffen, ihn zu bekämpfen ist unser Ziel. Und die Heilige Schrift ist mir bekannt, Ihr tragt den Namen des Erzengels Gabriel, durch den Gott gesprochen haben soll. Doch Gott sprach nur durch Christus zu uns, die Bibel ist Zeugnis für die Werke des Satans. Einzig das Evangelium des Johannes beschreibt die wahre Geschichte des Erlösers.«
Gabriel hielt inne und wunderte sich über sein Zögern. Der Dolch schwebte drohend über dem gesenkten Haupt des Ketzerbischofs.
Guilhabert flüsterte: »Jeder hat in seinem Leben etwas erlebt, dass ihn so verändert hat, dass er nie wieder die Person werden kann, die er einmal war. Ich erkenne dennoch Gutes in Euch, es ist nicht zu spät. Denkt daran, wenn Ihr dieses Haus verlasst.«
Dieser Mann beeindruckte ihn. Angesichts des unausweichlichen Todes sprach er gelassen und bedacht Worte, die ihn in seine eigene Vergangenheit führten. Er sah sie plötzlich wieder vor sich, die Ruderer mit ihren von Peitschenhieben zerfetzten Rücken, hörte ihr Stöhnen und das höhnische Lachen der sarazenischen Schiffsleute.
Erneut stieg ihm der Gestank der unter Deck in feuchten Ecken verwesenden Ratten in die Nase. Das gequälte Lächeln seines Gefährten Marco tauchte vor ihm auf, mit dem er jahrelang die glattgewetzte Bank auf der Galeere geteilt hatte, und der mit eiternden Geschwüren am ganzen Körper neben ihm verreckte. Er hörte das Klirren der Ketten, als sie ihn losbanden und kurzerhand über Bord warfen. Nur einer von vielen halb verfaulten Kadavern, deren rissige Hände das Schiff antrieben. An diesem Tag zerbarst seine Hoffnung, sein Glaube.
Er wurde ein Niemand, ein Stück Muskelfleisch ohne Namen bis venezianische Söldner die Galeere der heidnischen Piraten kaperten und ihn später unterhalb der Mauern von Byzanz halbnackt an Land aussetzten. Er war blutjung, bettelarm und hungrig. Aber er wollte leben. Nur leben. Dann lasen ihn abgerissene Gaukler auf, und lehrten ihn Fertigkeiten, die ihm bis heute dabei halfen.
Gabriel zog den Dolch zurück und den anderen aus dem Hocker. Beide verschwanden unter seiner Kutte. Er schritt zum Tisch, nahm den halbvollen Weinkrug in die rechte Hand und wandte sich erneut dem Bischof zu.
»Ich werde dich heute nicht töten und es wird meinem Auftraggeber sicher nicht gefallen. Ich verliere eine hohe Belohnung.«
Guilhabert setzte sich auf und atmetet tief ein.
»Wie hoch ist Euer Preis? Ich zahle ihn, mein Sohn, auf dass Ihr kein Unbill erleiden müsst!«
»Sehr freundlich. Dein Silber habe ich bereits unter deiner Bettstatt gefunden, sogar einige Goldmünzen sind darunter. Das reicht vollkommen aus. Übrigens, ein törichtes Versteck.«
Guilhabert entwich lautstark der angehaltene Atem. Mehr als hundert fränkische Bezant hatte er dort gelagert, die Spenden eines Jahres seiner Gemeinde. Genug um zwei Häuser wie dieses hier zu kaufen.
»Was verlangt Ihr dann?«
»Ich weiß, dass ihr Ketzer jeden Schwur ablehnt, müßig also, ein Versprechen von dir zu verlangen. Somit gebe ich dir einen wohlmeinenden Rat: Verlasse heute Carcassonne. Verschwinde aus der Nähe des Grafen Raimund, lass dich an seinem Hof nicht mehr sehen. Predige eure Irrlehre von mir aus in abgelegenen Bergdörfern.«
»Wenn nicht …«
»… dann schlitze ich dich vom Bauch bis zur Kehle auf und weide dich bei lebendigem Leibe aus«, unterbrach ihn Gabriel gelassen und kalt wie Stahl.
»Daran habe ich keinen Zweifel. Ich werde tun, was ihr sagt. Habt Dank, ich …«, er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, der Weinkrug zersplitterte auf seinem Schädel, grunzend stürzte der Bischof vom Hocker und verlor das Bewusstsein.
Gabriel würdigte ihn keines weiteren Blickes und durchquerte den Raum in Richtung Küche. Dort wuchtete er einen vollen Wasserbottich auf den gemauerten Herd und zog unter seinem Gewand einen Leinenbeutel hervor, der einen handtellergroßen venezianischen Spiegel barg. Diesen legte er neben den Bottich.
Einen Augenblick überlegte er, ob er noch einmal nach oben zur fest verschnürten Marielle gehen sollte, doch er verwarf den Gedanken. Zu viel Zeit hatte er mit dem Katharer verloren.
Entschlossen zog er den dunkelbraunen Haarschopf vom Kopf und kratzte sich die verschwitzte Haut auf seinem Schädel. Sorgfältig legte er dann das handgeknüpfte Verkleidungsstück zusammen und verstaute es in dem Beutel.
Ein Lächeln kräuselte seine Lippen, als er an den Hersteller dieses Kunstwerkes dachte. Ein stiller Mann mit bedächtigen Händen, der ein Vermögen mit seiner Arbeit verdiente. In Rom schätzten viele der adligen Damen sein teures Handwerk. Er verwandelte lichte Zotteln in dichte Mähnen und versteckte graue Strähnen unter dunklen Locken, machte aus alten Jungfern begehrenswerte Bräute und verblühte Ehefrauen zu reizenden Gefährtinnen. Seit Gabriel zu seiner Kundschaft zählte, konnte er auch Bärte in etlichen Formen auf hauchdünne Schafshaut knüpfen, eine willkommene Abwechslung, wie der verschwiegene Künstler erfreut festgestellt hatte.
Rom. Der Sitz seines Herrn und Meisters. Sein nächstes Ziel, die Aufträge hier in Okzitanien waren erledigt.
Das Lächeln verflüchtigte sich aus Gabriels Gesicht und er benetzte es mit Wasser aus dem Bottich. Langsam zog er sich den falschen Bart von Oberlippe und Kinn, den er mit durchsichtigem Kleber aus stark eingekochter Knochenbrühe befestigt hatte. Mühelos entfernte er die Reste, die wie kleine Hautfetzen aussahen, und trocknete sich mit einem Lappen ab.
Er wendete seinen schwarzen Mantel, der innen mit blauem Tuch ausgekleidet und mit einem aus grauem Hasenfell verbrämten Kragen versehen war. Ein Barett aus Wollfilz und ein bunt bestickter Ledergürtel vervollständigten seine Aufmachung.
Die beiden Wurfdolche trug er in einem weiteren Gürtel eng am Körper.
Ein abschließender Blick in den Spiegel zeigte einen jungen Mann mit braunem Stoppelhaar, dunklen Augen und ebenmäßigem, leicht gebräunten Gesicht, das einen gelangweilten Ausdruck annahm. Wie ein reicher, verwöhnter Kaufmannssohn, den er auf der anstehenden Reise spielen würde.
Zufrieden verstaute Gabriel den Spiegel zusammen mit dem falschen Bart im Leinenbeutel. Gemächlich schritt er zum Hintereingang des Hauses und packte ihn in seinen Ledersack, den er bei seinem Kommen dort abgelegt hatte. Leise klirrten die Münzen des Ketzers, als er ihn über die linke Schulter hing und das Gebäude verließ.
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